§16
Daß im Christentum die Unmenschlichkeit höher getrieben ist als in jeder andern Religion, ja auf ihren höchsten Gipfel getrieben ist, kommt nur daher und war nur deshalb möglich, weil es den schrankenlosesten Begriff der Menschheit gefaßt hatte und ihn in der religiösen Fassung nur verkehrte, entstellte, das menschliche Wesen unmenschlich machen mußte. Im Judentum ist die Unmenschlichkeit noch nicht so hoch getrieben; der Jude als Jude hat z. B. die religiöse Pflicht, der Familie, dem Stamme, der Nation anzugehören, d. h. für bestimmte menschliche Interessen zu leben; dieser Vorzug ist aber nur scheinbar und nur in dem Mangel begründet, daß der Mensch in seinem allgemeinen Wesen, nämlich der Mensch, der mehr ist als nur Glied der Familie, des Stammes oder der Nation, dem Judentum noch nicht bekannt war. Die Aufklärung hat daher ihren wahren Sitz im Christentum. Hier kann sie die tiefste Wurzel schlagen, hier ist sie entscheidend, und zwar, nachdem auch die Griechen und Römer ihre Aufklärung gehabt hatten, aber durch die Auflösung ihrer Religion nur zur Geburt einer neuen Religion den Anlaß geben mußten, für alle Zeiten, für die ganze Menschheit entscheidend. Die Aufklärung der Griechen und Römer konnte nur eine bestimmte, eine noch unvollkommene Religion, d. h. eine Religion stürzen, die noch nicht durch und durch Religion und vielmehr noch mit politischen, patriotischen, künstlerischen und sozusagen humanen Interessen vermischt war. Das Christentum ist vollendete, reine Religion, nichts als Religion; die Aufklärung, die es erzeugt und von der es gestürzt, wird, entscheidet daher die Sache der Religion und der Menschheit überhaupt. Es mußte aber aus beiden Gründen, die eigentlich nur ein einziger Grund sind, diese entscheidende Aufklärung erzeugen, weil es der Gipfel der Unmenschlichkeit und die religiöse Vorstellung von der reinen, unbeschränkten, allumfassenden Menschlichkeit ist. Aus demselben Grunde erklärt es sich, daß eine so lange Reihe von Jahrhunderten nötig war, ehe die Aufklärung und Kritik die Vollendung und Reinheit erreichen konnten, in welcher sie fähig waren, wirklich eine neue Epoche der Geschichte der Menschheit zu machen. Eben deshalb, weil das Christentum eine so umfassende Vorstellung von der Menschlichkeit enthält, konnte es so lange den Angriffen auf seine Unmenschlichkeit widerstehen. Die Angriffe waren so schwierig, so zaghaft, so halb – noch jetzt sind sie es in manchen Regionen der Aufklärung, wo man noch von dem christlichen Gebot der allgemeinen Menschenliebe, vom christlichen Gesetz der Freiheit und Gleichheit viel Rühmens macht –, weil man sich von dem religiösen Gebot der Bruderliebe imponieren ließ und nur schwer dahinterkommen konnte, daß eben dasselbe Gebot, weil es religiös ist, die Liebe also durch den Glauben beschränkt und aufhebt, den Haß, die Verfolgungswut erzeugt, das Schwert in Bewegung gesetzt und die Scheiterhaufen angezündet hat. Untergeordnete Religionen konnten eher fallen, weil die Hindernisse, die sie der Entwicklung der Menschheit entgegensetzten, sich eher fühlbar machten, d. h., weil sie von vornherein auf einer beschränkten Auffassung des menschlichen Wesens beruhen und die Aufklärung viel früher reizten, irreligiös zu werden. Aber diese Aufklärung war noch nicht für die Religion überhaupt entscheidend, da sie nur eine bestimmte, nur eine Schranke umstieß, nicht die Schranke, nicht die Beschränktheit und Unfreiheit überhaupt. Diese Aufklärung war auch deshalb nicht entscheidend, weil sie nicht einmal die bestimmte, noch unvollkommene Religion in der Art auflösen konnte, daß sie die Illusion, den Ursprung und die menschliche Entstehung derselben richtig erklärte. Nur die Aufklärung, welche die Illusion überhaupt, die Religion schlechthin erklärt und auflöst, wird auch die Illusion und den Ursprung der untergeordneten Religionsformen richtig erklären.
[Notes for §16 here]