§1
Publicistische Abhandlungen: von Wöniger, Doctor beider Rechte und der Philosophie. 1843. Berlin bei Hermes.
§2
Nach des genannten Herrn selbsteigner Ueberzeugung hat in kurzer Zeit die deutsche Publicistik sehr bedeutende Fortschritte gemacht ; sie sey im Bewußtseyn der Zeitbedürfnisse mit raschem Schritte vorwärts gegangen, obgleich sie großentheils auf den Schultern der jüngern Literatenwelt ruhe u. s. w. Was uns betrifft, so haben wir dieselbe Bemerkung und zwar nicht ohne freudige Regung eines gewissen Selbstgefühls; daß die Deutschen, welche nach Herrn Wönigers Ausdruck den Fremden zu einer Zielscheibe des Spottes dienen, nicht ganz ungerechte Vorwürfe einstens nach Gebühr beantworten werden. Freilich ist unser Wissen auf Kosten unserer Existenz erkauft; aber wir wollen, so viel unserer geringen Einsicht Urtheil zu Gebote steht, in diesem Urtheil nicht vorschnell seyn, da man bei Concentrirung der Verhältnisse sich sehr leicht irren konnte, um so mehr, als man durch die Anstalten, die man zu treffen für nöthig fand, für die Befestigung der politischen Macht zu einem Hauptresultate gelangte.
§3
Die neuere Zeit gebahr Volksnoth : schon lange äußerte diese auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ihre verderblichen Einflüsse, ohne daß man sich über die eigentlichen Ursachen ihrer Erscheinung, wie auch über ihren Charakter zu verständigen gewußt hätte. In ihrem Gefolge, sey beiläufig gesagt, schritt das Bewußtseyn vorwärts, das Volk erlangte Aufklärung und diese Aufklärung, welche in der bessern Erkenntniß wiederum ihre Würdigung findet, nennen die Gelehrten Intelligenz.
§4
Also ein intelligentes Volk.
§5
Herrn Doctor Wönigers ungemeine Thätigkeit, die Intelligenz durch Oeffentlichkeit zu befördern und ihr durch öffentliche Vorträge den eigentlichen Impuls zu verleihen, legitimirt sich auch in seinem Aufsatz : „über die Gründe des wachsenden Pauperismus.“ Er wurde, wie er selbst in der Vorrede mittheilt, durch specielle Aufforderung des königlichen Regierungspräsidiums in Potsdam ins Leben gerufen. Auch erwähnt er gleich am Eingang seiner Schrift zwei anderer Preisfragen, die wir, um ihn über seine Absicht recht zu verstehen, gleichfalls mit anführen.
§6
Diese Preisfragen sind gestellt: 1stens von der königlich preußischen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt im Jahre 1835, welche wissen will, „ob die Klage über die zunehmende Armuth und Nahrungslosigkeit gegründet sey.“
§7
2. Von der pariser Akademie de Sciences morales 1839 ; sie frägt nach den Ursachen und Kennzeichen der Verarmung.
§8
3. Von dem königlich preußischen Regierungspräsidium in Potsdam 1842, welches wissen will : „durch welche Mittel der Staat einer überhandnehmenden Armuth steuern könne.“
§9
Dieses außerordentlich fruchtbare Feld für literarische Abhandlungen ersah sich der genannte Herr zum Schauplatz seiner wissenschaftlichen Strategie, um mit eminenter Sprachfertigkeit die gegenwärtigen Zustände mit Hinweisung auf die Ergebnisse der Universalgeschichte zu verarbeiten.
§10
So verschiedenartig der Inhalt dieser drei Fragen für eine Discussion beschaffen ist, so verschiedenartig ist das Studium, welches auf ihre Beantwortung, auf ihre Lösung verwendet werden muß. Wer sich in einer Reihe von 25 Jahren theils nicht um des Volkes Daseyn bekümmern konnte, theils es vermöge seiner gesicherten Existenz nicht für nöthig fand, wer innerhalb weniger Monate alle Ursachen eines furchtbar gewachsenen Uebels zu ergründen gedenkt, um dadurch eine Preisfrage zu lösen, der möchte wohl, selbst mit dem besten Willen daran scheitern, seiner Aufgabe zu genügen, und Klarheit in das Chaos menschlicher Irrthümer zu bringen.
§11
Volksnoth, bedrohte Existenz, sind für das Gesammtverhältniß inhaltsschwere Worte: sie können wohl besonders durch Aufforderung: „Durch welche Mittel dem Uebel abzuhelfen sey?“ academisch gezogene Federn in Bewegung setzen; aber die Frage ist, da die Lenker der Menschheit sich nun einmal veranlaßt fanden, das materielle Element unbeschränkt herrschen zu lassen, leichter zu bereden, als eine positive Entscheidung über dieselbe zu geben. Das begreift Herr Doktor Wöniger sehr wohl, eben deshalb berührt er auf seiner flüchtigen Reise durch das Reich des menschlichen Elends den Mechanismus der modernen Staatskunst sehr leise, giebt nach einem merkwürdigen Aufwand von Redensarten einige Andeutungen über das wo und wie, und stellt sein System auf. Indem nun Herr Doktor Wöniger von Seiten der Königl. Regierung in Potsdam eine direkte Aufforderung erhielt, die Frage zu lösen:
§12
„Wie und durch welche Mittel der Volksnoth zu begegnen sey?“ so hätte er in der Antwort speciell und entschieden seyn müssen, selbst auf die Gefahr, daß seine Vorschläge von der Regierung als unanwendbar erklärt worden wären. Er sagt in seiner Vorrede selbst: Daß es Noth thue vorwärts zu streben sonder Furcht und Tadel! Daß der Geist dem seine Blätter dienen ein Geist des lebendigen und entschiedensten Fortschrittes sey. Um so mehr muß man ohne Rückhalt sonder Furcht und Tadel rund heraussagen was man meint und weiß; denn daß nur durch eine ernste Reform unserer politisch socialen Lebensverhältnisse geholfen werden könne, das ist nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge eine sehr gewöhnliche Rede, die ein jeder gebraucht; selbst dann noch, wenn man der Gesammtintelligenz der Zeit ein mahnendes Wort zuruft, hat man noch keinen Schritt für die Linderung einer Volksnoth gethan. Worte die auf die Felsenherzen des Egoismus wirken sollen, müssen in Vulkans Werkstätte geschmiedet sein.
§13
Herrn Wönigers Schrift erhielt laut seiner Vorrede eine anderweitige Bestimmung, indem er durch eingetretene Umstände verhindert wurde, die Beantwortung des aufgegebenen Themas an die Regierung in Potsdam abzuliefern. Diese specielle Veranlassung war es jedoch, welche den Verfasser oben bezeichneter Schrift nach seinem eigenen Ausdruck zu einer genaueren Bekanntschaft mit dem Zeitübel führte. Er ist allerdings bescheiden genug, einzusehen, daß einige Monate nicht hinreichen, dessen ganzen Umfang kennen zu lernen, selbst wenn man Bodz und alle Quellenschriftsteller des Pauperismus zu Hülfe nimmt: Indem er von seinem wissenschaftlichen Standpunkt jedem das Feld einräumt, wird es auch dem gestattet seyn, der mit dem Zeitübel seit Jahren Schritt um Schritt gethan, seine Meinung über dasselbe auszusprechen, der, um es zu charakterisiren, weder Bodz, noch Franz Baur, noch alle andern braucht.
§14
Wenn man sich aber einmal bewogen findet, nicht für die Fachgelehrten, sondern für das große Publikum zu schreiben, dann ist es jedenfalls besser, alle fremdartigen ja selbst unverständlichen Ausdrücke aus seiner Schrift, Buch oder Werk zu entfernen.
§15
Uebrigens ist es keine Kleinigkeit, auf eine Ausforderung, wie sie das Regierungscollegium in Potsdam erlassen als Kämpfer in die Schranken zu treten; denn die Motion ist so eigenthümlicher Natur, daß sie nicht allein einen berühmten Publicisten, sondern auch die Vertreter unserer staatsrechtlichen Institute in Verlegenheit setzen würde. Wie kann wohl ein einzelner, sey er Publicist, Hofrath oder Minister über die Frage eine wirklich entschiedene Auskunft geben:
§16
„Durch welche Mittel der Volksnoth zu steuern sey!“ Und besäße er Kühnheit und Schärfe des Verstandes alle abnormen Begriffe über Besißthum zu regeln, würde er durch seine Documente zu beweisen wissen, daß die Volksnoth weniger das Mitgift unserer aufgeklärten Zeit sey, als sie unbemerkt durch eine systematische Erziehung ihr Dasein erlangte und nun gegenwärtig die Majorität repräsentiren kann, so kann dies nebst der Frage über ihre Heilung nur mit einem außergewöhnlichen Aufwand von Zeit und Mitteln geschehen; denn solche Materialien sind nicht mit gewöhnlichen Mitteln herbeigeschafft. Würde ein solcher Mann den Motionsstellern eine gleiche und für eine mühselige Arbeit gerechte gegenüberstellen, so kann er schon halb überzeugt seyn, daß seine Sache nach den modernen Grundsäßen keinen Glauben erhielte; man würde ihn wahrscheinlich für incompetent, für einen Verschwender erklären. — Wie gesagt: Herr Dr. Wöniger hat sich oder konnte sich aus seiner Bücherstube auf eine solche mißliche Untersuchung nicht einlassen; dennoch war der Drang, die gegenwärtige Volksnoth als Basis zu einer allgemeinen Zeitschilderung zu verwenden zu groß, um nicht die einmal von der Königl. Regierung in Potsdam angeregte Frage zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, und die „allgemeinere Aufgabe dem Publikum durch ein völlig abgeschlossenes und abgerundetes Ganzes vorzulegen.“ (Vorrede Seite 12.)
§17
Der Verfasser stellt nun nicht die Mittel der Abhülfe, sondern die Gründe des wachsenden Pauperismus zum Gegenstand seiner Untersuchung und gelehrten Abhandlung auf.
§18
In einer Vorrede, einem Inhalt, und zwei Hauptabschnitten, welche lettere in 22 §. eingetheilt sind und zusammen etwa 150 8. Druckseiten enthalten, hat der Herr Verfasser sein Gemälde über eine der wichtigsten Zeitfragen skizzirt, und ihre Charaktere aus den Thatsachen der Geschichte zu modelliren gesucht.
§19
Es wird im Verlauf unserer begleitenden Darstehung ein jeder Hauptabschnitt oder auch ein s. mit der Ueberschrift im Original bezeichnet werden, um eine genauere Uebersicht seines publicistischen Vortrags zu gewinnen, wie auch auf eine bequeme Manier seinem Ideengange folgen zu können. In dem heißen Kampf der Meinungen sagt Herr Wöniger selbst, kann man sich nicht auf Rosen betten. Wahr. — Darum sorge ein jeder, daß er in der Hitze des Gefechtes seine Position zu behaupten weiß. Was in der Sache gut ist, das wird es auch für uns seyn. Was schlecht und für den Zweck unbrauchbar ist, wird verworfen, denn hier hilft kein Zittern vor'm Frost.
§20
Die Vorrede zur ersten Auflage fängt also an: Nicht für die Fachgelehrten, für das große Publikum sind diese Abhandlungen geschrieben.
§21
Jedenfalls sollen literarische Abhandlungen, mögen sie für die Fachgelehrten, oder für das große Publikum bestimmt seyn, ihrem Zweck entsprechen; Belehrung über eine so wichtige Sache wie hier, wo die Gründe der Volksnoth nachgewiesen werden sollen, ist doch der reelle Maaßstab, welchen vor allem der Publicist gebrauchen muß. Mit Beseitigung aller Rücksichten muß er so verständlich wie möglich in seinem Vortrag seyn: vor allem aber in der Diction eine ruhige Haltung beobachten, um nicht von Extremen berührt zu werden und in Inconsequenzen zu verfallen. In dem weiteren Verlauf der Vorrede tritt Herr Wöniger sehr behutsam und schwärmerisch auf. Seine Prosa erscheint beinahe als lyrische Dichtung. „Die Zeit der Freiheitskriege ist den Coätanen noch sehr wohl im Gedächtniß“ etc. Dies klingt gleichsam als eine Anklage gegen die Philister. Laßt ihnen doch die Erinnerung an ihren Indifferentismus, ihre Partei- und Urtheilslosigkeit. Denn mit Schaudern und Grauen, beobachten sie, wie sie vibrirt, diese Intelligenz, sie finden den Preis, um den sie verkauft, zu hoch, sie lassen sich nicht durch den Patriotismus eines Publicisten bestechen, wenn er die Summe der deutschen Völker multiplicirt und 44 Millionen herausbringt, die nach gewohnter Weise dem Franzmann ingrimmig die Zähne zeigen. Aber „das Nationalbewußtsein ist aus einem langen Winterschlaf erwacht.“ Nein! Er zweifelt, er wagt es kaum, zu denken, denn er fährt sehr geheimnißvoll fort: „sollen wir es unsererseits dabei bewenden lassen? sollen wir wiederum die Hände in den Schooß legen? O wir sind ein großes Volk; wir sind ja das Herz Europa's.“ — So viel ich von Herrn Wönigers politischen Schriften gelesen habe, so hat er eine ganz eigenthümliche Methode, indem er die Deutschen immer beim Namen nennt. Da nun die Deutschen sehr schwerhörig sind und im Ohre ein dickes Trommelfell haben, so kann er sich gewiß darauf verlassen, daß sie ihn nicht verstehen, wenn er flüstert. Aber gerade im Herzen darfs nicht stille seyn, denn darüber möcht es am Ende selbst stille stehn, und dann ja dann werden wir den dritten — den Pauperismus — Pariser Frieden schließen, nur nicht in Paris. Säen wir denn so lange es noch Zeit ist, auf daß wir ärnten über ein kleines.“
§22
Sowohl das Regierungscollegium in Potsdam, wie auch das große Publikum müssen seine Sentimentalitäten in der Behandlung der wichtigsten Zeitfrage für überflüssig finden, selbst dann noch, wenn er nach langem Winterschlaf am politischen Horizont die Maysonne aufgehen und über die Gefilde eines dreißigjährigen Friedens scheinen läßt. Das temporisirte deutsche Volksthum erregt in unserm Dichter ein unbehagliches Gefühl, er sieht auf den stabilen Naturen ein Gespenst des Schreckens. „Wenn es im Herzen stille steht, werden wir den dritten Pariser Frieden schließen, nur nicht in Paris.“ Welches ist nun der Sinn seiner Rede! Wahrscheinlich soll es mit dem dritten Pariser Frieden so viel heißen: wenn das deutsche Volk noch nicht begreifen lernt, daß es durch ein festes Anschließen an das bestehende Princip durch 44 Millionen Köpfe unüberwindlich sey, wenn es gleichgültig gegen Nationalität und alle vaterländischen Interessen nur seines materiellen Vortheils wegen leben will, wenn es jede Autorität, welche eine gesicherte Existenz verbürgt, für competent hält, dann steht es mit der politischen Freiheit gegen die Doctrinen Frankreichs wieder auf dem Punkt von 1806; man wird uns überrumpeln, man wird uns in Berlin fränkische Gesetze dictiren.
§23
Anstatt die deutsche Nation durch eine kleinliche Furcht vor der fränkischen Bevormundung zu warnen, anstatt sie zu erinnern, daß sie sich hüten solle vor einem abermaligen Winterschlaf von 25 Jahren, so redet ohne Phrasen und Deklamation männlich mit ihr: sagt ihr, daß sie sich waffnen solle gegen die Intriguen der Fremden, waffnen gegen Anmaßung und ungerechte Raubgier: sagt ihr, daß es ein Volk sey, kräftig und stark, um alle europäischen Pentarchien zum Lande hinaus zu werfen. Dann wird es endlich dem englischen Krämergeist — diesem christlichen Judenwucher — die Spitze bieten.
§24
Noch einige Andeutungen, die überhaupt gar nicht zu einer Kritik der gegenwärtigen Volksnoth passen, zeigen von einer peinlichen Befangenheit, die Zeit, in welcher die Ursachen des modernen Pauperismus liegen, zu schildern. Er spricht nicht von der Volksnoth in hiesigen Landen, sondern im allgemeinen von der Volksnoth als einer folgenrechten Bedingung des Fortschrittes in der Cultur. Deßhalb macht er auf sein Wissen künstlich bescheidene Ansprüche und überläßt geübtern Federn durch neue Gesichtspunkte die Grundzüge seiner Auffassungsweise zu erweitern.
§25
Herr Dr. Wöniger ist in der Darstellung mit mehr als gewöhnlichen Mitteln begabt, hätte er seinen Stoff nicht aus seinem Studierzimmer, aus einer Büchermasse herausholen müssen, hätte er ihn inmitten des Volkes gefunden, dann hätte es ihm vermöge eines guten Urtheils gelingen können, die Elemente eines täglich um sich greifenden Uebels zu ordnen, und sie für Jedermanns Nutzen zu einer faßlichen Anschauung zu bringen, besonders da ihn die königliche Regierung autorisirt hatte, einen sogar historisch merkwürdigen Auftrag zu erfüllen.
§26
Sicher wäre ihm ein ersprießlicherer Vortheil entstanden, wenn er das Getriebe des Volkslebens, dessen fortdauernde Geldnoth im gewöhnlichen Geschäftsgange, einige von den kleinen Leiden der Miethsbürger, die verzweifelten Gänge der unglücklichen Hausfrauen mit den Resten ihrer eingebrachten Habe nach Leihhäusern, die rabulistischen Kniffe der Kauf- und Mieths-Contracte etc. nur einigermaßen aus der Wirklichkeit kennen gelernt hätte: er hätte der Sache einen größern Dienst leisten können. Wie anders kann man lernen als aus der nackten Wirklichkeit? Wie anders kann man den Inhalt dieses Capitels begreifen, als wenn man ihn aus den Thatsachen des Lebens herausliest? Aber auch hier in dieser Manier von Quellenstudien kann man sich täuschen. Man kann für Wahrheit halten was Lüge ist, und für Lüge was Wahrheit ist. Obgleich hier auf einzelne Fälle nicht viel ankommen kann, so können sie doch dazu beitragen, Verwirrung in die Reglements der Administration zu bringen; dem, dessen Erfahrungen nicht aus den manigfaltigsten Wechselfällen des praktischen Lebens hergeleitet sind, wird es schwer werden, in speciellen Untersuchungen der Sache auf den Grund zu kommen. Deutschlands augenblicklich politische Uebergangs- und Durchgangsperiode ist leichter herauszukalkuliren, als in einzelnen Fällen die Ursachen zu finden, wodurch die Familien verarmen. Uebrigens hat es mit der Durchgangsperiode seine Richtigkeit; wir brauchen in den Gang des Prozesses weder den Fall eines Irthums noch Beweisgründe einzuschieben, was da werden wird, wissen wir freilich nicht. Denn es ist ein geheimnißvoller Kampf der da vorwärts schreitet, in welchem mancher Strich durch die gescheitesten Rechnungen gemacht werden kann. —
§27
Herr Wöniger stellt die wichtigste Zeitfrage auf geschichtliche Grundlagen, damit nicht eine Zukunft ohne Vergangenheit haltlos schwebe in der Luft. Wir haben gegen geschichtliche Beweisführung nicht im mindesten etwas einzuwenden: wenngleich in der analogischen Zusammenstellung ein bedeutender Unterschied zwischen gestern und heut nicht zu verkennen ist, so sind doch die Beispiele, wodurch in frühern Zeiten die Völker verarmten, auch für uns wichtig genug, besonders da sie das meiste zum Sturze der Staaten und gewaltigen Reiche beigetragen haben.
§28
Griechenland, Rom und Carthago fielen als Opfer einer innerlich gereiften Selbstsucht: der geehrte Herr will nicht, daß solche Stoffe mit vorschnellem Eifer weggeworfen werden; er will nicht, daß die stillgereifte Frucht der Zukunft durch Erzielung einer tabula rasa mit Stumpf und Stiel vernichtet werde. Schon gut! wenn nur diese gesuchten Kunstausdrücke dem Verständniß des großen Publikums nicht zu sehr entfernt lägen, da doch dieses nicht aus lauter Primanern bestehen kann, und es oft sehr beschwerlich ist, zur Erklärung einer »tabula rasa« einen solchen herbeizuschaffen; vielleicht würde die Diction etwas verständlicher geworden seyn, wenn der berühmte Publicist anstatt des lateinischen Calculs in ihr rasirte Tafel verwendet hätte; überhaupt, da er selbst sagt, daß die Presse bisher lediglich den Zunftgelehrten gedient hätte, deren eigenthümlicher Jargon für das Volk unverständlich blieb: wenn also unsere Journalistik durch ihre Fadaisen noch dürftig und oberflächlich ist, so soll er doch selbst zuerst anfangen gründlich populär zu schreiben.
§29
Es sind ihrer in folgenden Abschnitten eine solche Menge vorhanden, daß man vor lauter „Negationen“ nicht weiß, was man damit anfangen soll. Wir wissen recht wohl, daß sich ein solches Uebel in der Behandlung eines so wichtigen Gegenstandes, den Mangel an selbsteigner Erfahrung ganz bei Seite geseßt, hierselbst sehr leicht herausstellen läßt: wenn ein Schriftsteller schon mehr als oberflächlich ist, muß man seine Leistungen anerkennen, da es eine Kunst ist zu schreiben, und ein solcher in der Wahl seiner Ausdrücke mit hundert Rücksichten und Bedenklichkeiten zu kämpfen hat. Sein Eifer, für die Sache über öffentliche Dinge öffentlich zu verhandeln, damit das Volk gebildet werde, um für die Engländer nicht immer zu einer Zielscheibe des Spottes zu dienen, bleibt in diesem Machwerk sein größeres Verdienst. Daß aber die vaterländischen Schriftsteller nach seiner Meinung es gleichsam verschmähen, über öffentliche Zustände öffentlich und populär zu verhandeln, darüber braucht sich der geehrte Herr nicht so oft zu wundern. Was heißt überhaupt populär schreiben? Das allgemeine Interesse unter Beschränkungen durch bloße Andeutungen ohne Kritik oder bestimmten Nachweis zu verhandeln, ist doch gewiß nicht der rechte Weg der Oeffentlichkeit! Sind meine Entschuldigungen, die ich bloß deshalb anbringe, weil ich entweder nicht überzeugend seyn kann, oder unter Bedingungen nicht seyn darf, etwa für den Dienst der Popularität geschaffen. Wie kann ich ohne Kritik, ohne Auseinanderseßung des Stoffes, den ich bearbeite, eigentlich verständlich und populär seyn. Mit einem Wort, wir wollen ihm das Verdienst, welches in seinem Eifer für die Sache liegt, nicht schmälern, aber das verdenken wir ihm; daß er am Schluß feiner Vorrede noch abgenußte Redensarten gebraucht; „wenn auch ohne das moderne typographische Räuspern eines Schriftstellers, der den Muth hat, eine politische Schrift herauszugeben“ etc. Wer weder eine politische Meinung, noch den Muth hat, sie öffentlich auszusprechen, der mag einen Katechismus schreiben.
§30
II. Die Einleitung.
§31
Herrn Wönigers Schrift erlebte bei der großen Dürftigkeit, in welcher der deutsche Buchhandel mit literarischen Abhandlungen über die wichtigste Frage aller socialen Verhältnisse versehen ist, bald nach ihrem Erscheinen eine zweite Auflage. Wir glauben es gern, daß sich der Verfasser über dieses Ereigniß sehr geschmeichelt fühlte: daß demselben jedoch, nach Plan und Anlage der vorliegenden Schrift noch besondere Mittel zu Gebote gestanden hätten, für sehr nöthige Verbesserungen im zweiten Abdruck Sorge zu tragen, das möchten wir anstatt seiner schmerzlichen Entschuldigung über Zeitbedrängniß unbedingt zu vertrauen, bezweifeln. Wir gehen zunächst auf die Einleitung über, in welcher sich nach litterarischen Gesezen die Ansichten entwickeln sollen, die im Verlauf der öffentlichen Diskussion specificirt werden und zu einem System sich gestalten sollen.
§32
Es wäre Verläumdung wenn man von dem Verfasser, nach dem Lesen seiner Schrift sagen wollte, daß er nicht innig von der Existenz der Volksnoth überzeugt sei, ja sogar den Charakter ihres Fortschrittes, ihres möglichen Resultates vollkommen erkannt hätte: daß diese Schrift aber durch ihre problematische Construktion, für des Volkes Belehrung nichts, weiter als ein Problem geworden ist, erlauben wir uns nach näherer Anschauung zu erklären. Die ersten Seiten sprechen mit Wärme über Thatsachen die aus dem Familienleben entnommen nur zu wahr sind. Die Stimmen des Jammers sind große publicistische Autoritäten, die übereinstimmend zusammentreffen in der furchtbarsten Zeit der Noth. Schaut um euch ihr Zweifler die ihr Augen habt zu sehen und Ohren zu hören; wo giebt es ein Leihhaus, dessen Hallen nicht überladen sind von Pfändern, wo ein Gericht, bei dem die Schuldenklagen nicht täglich zunehmen, wo eine Armendirektion deren Pflichten sich verminderten!!?“ Eben weil diese Thatsachen zu wahr sind, kostet es auch keine große Mühe dieselben ausfindig zu machen: an sie reiht sich das Rechnungs-Erempel eines Franzosen, welcher in Europa im Durchschnitt auf 194 Personen einen Bettler stellt. Solche Unrichtigkeiten müssen zur Stelle widerlegt werden. Nach diesem Verhältnisse wäre keine Armuth in der civilisirten Welt, denn es wäre eine Schande für Israel, wenn hundert Begüterte nicht einen Lazarus sättigen wollten. Die bessere Erkennung der Noth, fern von selbstgeschafften Täuschungen wird in der Abhandlung auf eine ganz eigenthümliche Manier nachgewiesen. Sehr richtig wird das Leben in seiner Totalität betrachtet, und der Mensch als Mittelpunkt desselben hingestellt. Seine Verhältnisse welche durch die Totalität des Lebens geprüft werden können, dienen als Wegweiser um die Quellen des ihn verfolgenden Uebels aufzufinden. Wer diese Seiten anschlägt, der wird auch ihre Harmonie bis zu ihren Grundton verfolgen, ohne durch Sprünge sich in dem Reich der Töne zu verirren wie es dem Verfasser mit seiner Composition ergangen ist. Seine Frage hat in der allgemeinen Fassung keinen bestimmten Staat vor Augen, sondern sie sezt den Staat in seiner empirischen Erscheinung in die Staatenwelt. „Es ist nicht Frankreich, nicht Preußen, nicht England, sondern es ist der Zeitgeist im ganzen, oder wenn man will die moderne Weltgeschichte, worin die Volksnoth liegt.“ — Es scheint als ob der Verfasser im Staatssystem die Volksnoth begründet sieht! — Da nun dieselbe eine Folge physischer oder moralischer Revolutionen ist, welche ihre Existenz schon in Urstaaten gegründet haben, so wäre von dieser Seite dem System des Verfassers nichts entgegen zu stellen, besonders da der Gedanke seinen wissenschaftlichen Standpunkt befundet. Gut! wenn in der Staatenwelt Noth herrscht, dann werden die Quellen der Armuth alle im praktischen Leben vorhanden sein, demnach würde man immer im Gleiße der Wirklichkeit ihre Ursachen verfolgen können, ohne daß man zu befürchten hätte, auf Abwege zu gerathen.
§33
Wir aber sehen uns nach dem Verlauf der Abhandlung bewogen zu bemerken: Daß der Verfasser bei seinem projektirten Entwurf die ganze Tiefe des Gedankens nicht erfaßt hat, denn wäre dies im eigentlichen Sinne geschehen; so möchte es ohne bedeutende Collisionen mit den bestehenden Principien nicht abgegangen sein. Ist der Gedanke schon an und für sich schwer zu erklären, überhaupt da er so lange nur Staaten existiren nicht documentirt werden darf, so wird derselbe in Wönigers publicistischer Schrift noch dadurch haltlos; da derselbe eine selbstgeschaffte Täuschung mit begünstigt, und in der Beklemmung über den Gegenstand etwa etwas Unwahres oder auch zu viel zu sagen, zu weiter nichts dient, als eine Ausflucht von dem Unmittelbaren zu den Mittelbaren zu erlangen. Nach Aufforderung einer hohen Staatsbehörde befremdet es uns allerdings, daß der Verfasser der Volksnoth keinen bestimmten Staat anweist, jedenfalls sind die Ursachen, wodurch die Menschheit in Frankreich, England oder Spanien verarmt, von denen in Preußen verschieden; und es ist möglich, daß sich dort in der realen Wirklichkeit die Volksnoth besser in zwei Klassen reduziren läßt als hier. Nehmlich: „in eine durch liederliches oder luxuriöses Leben selbstverschuldete“ — und in eine durch die Macht der Verhältnisse verfallene Concurrenz-Armuth, wie wir sie nennen wollen.
§34
Es werden hier eine ansehnliche Menge Schriftsteller vorgeführt, welche zum Theil große Werke über Pauperismus geschrieben haben. Einige sind nach des Verfassers Urtheil mit bemerkenswerther Tiefe abgefaßt, dennoch ermangeln sie alle in den Grundgedanken einer reellen Ansicht. Ich habe sie nicht gelesen, ich weiß daher auch nicht, was dieselben über die Fragen der Volksnoth für unrealisirte Begriffe enthalten. Franz Baur hat die von der Erfurter Academie gekrönte Preisschrift angefertigt. Ueber Sie sagt der Verfasser: „was den Grundgedanken betrifft — so wäre dieselbe mit bemerkenswerther Tiefe geschrieben; ihr Verfasser sei aber im Irrthum, daß wenn das deutsche Volk schon große Leiden überstanden habe, wenn es aus Kriegen Hungersnöthen u. s. w. sittlich unverdorben hervorgegangen sei, auch diesmal der Hungersnoth durch seine physischen Kräfte wiederstehen werde.“ Herr Doctor Wöniger nennt jedoch diese unglückliche Constellation, sehr treffend: „einen selbstgefälligen Irrthum“ Mit Manier wird hierauf erwiedert: höchstens ist der Menschenfreund zu einer tröstenden Hoffnung berechtigt: aber dabei sich zu beruhigen, geziemt dem Staatsmann um so weniger, als er weiß, daß keine Zeit in der Geschichte der andern gleicht, daß die Vergangenheit nicht Bürge sein kann für die Zukunft. — „In unserer Zeit und der frühern liegt ein sehr bedeutender Unterschied. Der moderne Pauperismus hat einen politischen Charakter usurpirt, und in denselben ein staatsgefährliches Element aufgenommen; während der alte Bettler sein Loos mit Ergebenheit trug und es als eine göttliche Schickung ansah; frägt der neue Lump, ob er gezwungen sei, armselig durchs Leben zu wandern, weil er zufällig in Lumpen geboren wurde!“ Ueber dieses Rösonnement läßt sich bis auf einige für den großen Haufen unverständliche Fremdwörter nichts einwenden: auch ist die Benennung des Zeitübels („Der schwarze Tod“) nicht so ganz unrecht; anstatt, aber auf drei Seiten Text eine direkte Mahnung an die modernen Staatsregierungen folgen zu lassen, daß sie sich „vornehmlich und aus innern Gründen rüsten sollen gegen den gemeinsamen Feind,“ wäre es vorerst besser gewesen die Gründe des wachsenden Pauperismus an's Tageslicht zu bringen, und sie so einfach als möglich dem allerhöchsten Forum auseinander zu setzen. So lange dies unterbleibt, nützen alle diese Redensarten nichts. Sehr leicht ist gesagt, daß der gesellschaftliche Staatsverein die Armuth geboren, auch sehr leicht hinzufügt, daß es für die Regierungen die heiligste Aufgabe sei gegen das Uebel einzuschreiten: daß es überhaupt ihre Pflicht ist, wissen die Regierungen besser als dies ihnen ein Publicist sagen kann. Sie haben Anstalten zu treffen gesucht, die Armuth durch Beihülfe zu mildern, sind sie mangelhaft, unzulänglich, werden sie schlecht verwaltet, so weise man ihnen die Fehler nach: liegen die Hauptquellen der Volksnoth in den Institutionen des Staates selbst, so wird der Staat jedenfalls eine gründliche Nachweisung als ein nöthiges Argument anerkennen. Herr Wöniger kömmt aber durch seine Dissertation für sein vorgestecktes Ziel zu sehr auf Abwege, und wird bei dem öftern Citiren des sehr geliebten Sprachgebrauches „der Sache durch ein tiefes Eingehen“ auf den Grund zu kommen dennoch so unklar, daß der Leser bei allen guten Reflexionen, welche seine Schrift enthält, nichts weiter als ein Abstractum, eine eigens vorgenommene Absonderung von dem bestimmten Gegenstand selbst findet, wodurch ihm die ganze Gedankenfolge als eine Dichtung erscheint.
§35
Seine Kritik über die Quellenschriftsteller des Pauperismus ist für das große Publikum noch fürchterlicher als sein projektirtes System. Seite 15 wird über Buret gesagt, daß er der einzige sei der in der Auffindung der Gründe systematischer zu Werke gegangen sei. Die allgemeinen Gründe zerfallen dem Buret in historische und politische, die besondern dagegen in, imputable und nicht imputable. Besser wäre es gewesen, wenn die Worte des Franzosen Buret, welche so viel als verschuldet und unverschuldet heißen sollen, gleich übersetzt wären. Denn für einen Deutschen steckt in dieser Zusammenstellung von Worten entweder der Stoff einer furchtbaren Revolution: oder gar nichts. — Eine Kritik in eine selbstständige Abhandlung mit aufzunehmen wird auf den Gang der Sache immer einen nachtheiligen Einfluß ausüben; fremde Meinungen oder historische Facta als Vergleichs-Citate anzuwenden ist praktischer, und für eine populäre Darstellung geeigneter, besonders da des Herrn Wönigers Schrift eine solche sein soll. Darum wird schwerlich jemand in einer vorherrschend praktischen Erörterung einen genauern Nachweis über seine Bücherkunde verlangen. — Uebrigens sind die Quellen nach des Verfassers Urtheil fast alle mit bemerkenswerther Tiefe geschrieben, sie würden aber, wie die Schriften von Baur und Schmidt (Seite 16), zusammengenommen nicht einmal ihrem Thema genügen, geschweige denn daß dies noch unvollständigern Bemerkungen wie bei Posek und dem Ungenannten gelungen wäre. — Was wir nach diesen Manifestationen herausfinden, so sollte die Schrift nach ihrer Anlage so überzeugend wie möglich sein. Der Verfasser vertraute seinen praktischen Erfahrungen, seinen philologischen Untersuchungen, und wollte durch ein ungeheures Quellenstudium das Gebiet der Pauperismus Litteratur im „kreisenden Schooße der Zeit“ mit einer reichlichen Aussaat befruchten. — Bald mußte er wahrnehmen, daß das Gebiet ein felsiger Boden sei, worauf das Unkraut seit Jahrtausenden wuchert, daß es hier auf einen Kampf ankömmt mit menschlichen Leidenschaften: auf einen Kampf, wo Leben um Leben gefordert wird, wo jedes Glied der organischen Kette wird springen müssen ehe dem Bettler, dem Niedriggebornen wie auch dem verzweifelten Spieler sein besseres Ich ist wiedergegeben. Die Staaten selbst haben sich in allen politischen Stürmen nur mit der äußersten Anstrengung erhalten können. Was sich in allen Zeiten mit den Menschen zugetragen hat erzählt uns die Geschichte, und da kommt dann freilich mancher Widerspruch zum Vorschein in welchem die Unzulänglichkeit der moralischen Hülfsmittel deutlich genug zu erkennen sind. Der Staat hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen; die erste betrifft die Erhaltung seiner politischen Eristenz. — Die zweite des Volkes Wohlfarth. Das Recht der Selbsterhaltung ist das erste, darum handhabt es der Staat mit Vorsicht und hält jedes Opfer welches von Seiten des Volkes dazu nöthig wird für ein bestimmtes Recht. Weil und die innere Verwaltung ungleich mehr Geschicklichkeit erfordert als die äußere Bewahrung der Grenzen, so sind Collissionen nicht zu vermeiden. Wir führen aus der Regierungsgeschichte Friedrichs des Großen ein Beispiel an, um nachzuweisen wie sich der Monarch und eine Gesammtverwaltung in der Organisation der Gesezgebung über des Volkes Wohlfarth irren kann. Der König wollte nach den Zeiten des siebenjährigen Krieges das Volk nicht mit direkten Steuern drücken, dennoch wurde gegen die Mächte welche Preußens Eroberung mit Eisersucht betrachten, eine achtungsgebietende Staatsmacht nöthig und dazu Geld gebraucht. Der König bestimmt, daß Taback, Zucker, Kaffee überhaupt alle Colonialartikel mit einer hohen Steuer belegt werden sollen, es solle das gemeine Volk anstatt Kaffee zu trinken, Mehlsuppe essen.
§36
Dem Volfe will aber die Mehlsuppe nicht schmecken, es klagt daß die Mehlsuppe kein Ersatz für den Kaffee, als ein bei Tages Last und Arbeit unentbehrliches Genußmittel sei. Das Klagen hilft nichts und das Volk muß sich in des Königs Anordnungen fügen. Jetzt aber ward erst Kaffee getrunken und dazu Tabak geraucht! Die Leute bezahlten für das beliebte Getränk wie in unserer Zeit für eine Lotterienummer ihren letzten Groschen — und nun floß das Vermögen des Volkes trotz der kostspieligen Verwaltung des Steuersystems in den Staatsschatz. An der Spitze der neuen Einrichtung standen Franzosen. Ein gewisser Herr von Launay wegen seiner Gewandtheit von dem König Jupiter genannt, war General Controlleur der Finanzen, und verdiente in einer Reihe von 20 Jahren nach Mirabeaus Werke über Friedrichs des Großen Verwaltung Millionen. Mirabeau selbst, der mit Mauvillon über Preußen und die Verwaltung Friedrichs des Großen ein ganz ausgezeichnetes Werk herausgegeben hat, will der Sache über Nationalwohlfahrt noch besser auf den Grund kommen. Er weiß für die beschränkte Zunftbürgerschaft im Königreich kein besseres Mittel als die völligste Losreißung aller Fesseln, eine radikale Gewerbefreiheit. Er sagt: „nun aber ist ein Schuster so gut ein Fabrikant als ein anderer, zwar kann er auch selten mit der Hoffnung anlocken, seine Arbeit außer dem Lande zu verkaufen: allein was liegt daran? wird er nicht durch seine Concurrenz den Arbeitslohn für sein Handwerk im Lande heruntersetzen? wird er nicht auf diese Weise das Seinige dazu beitragen, eure Unterthanen reicher zu machen?“
§37
Ist das nicht eine ganz vortreffliche Staatswirthschaftslehre? wir möchten doch wissen, was der Graf Mirabeau dies Mitglied eines Nationalcongresses sich eigentlich unter dem Volk gedacht hat! Mit dem Schuster meint Mirabeau doch alle Schuster, und alle Producenten sämmtlicher Gewerbe, und Fabriksinstitute. „Was liegt daran!? Der Mann wird durch seine Concurrenz den Arbeitslohn im Lande heruntersetzen, er wird auf diese Weise das seinige dazu beitragen, daß euer Volk reich werde.“ Wahrhaftig! das ist eine glänzende Staatstheorie. Gewiß hat der Herr Graf nicht gewußt daß die Producenten die größere Masse der Staatsbürger ausmachen, und daß sie sonach noch die Hauptconsumenten zugleich sind. Wenn nun Friedrich der Große auf das Projekt einging: die ganze Commune wäre an den Bettelstab gelangt. Was hätte der Herr Graf wohl erwiedern können? vielleicht hätte er gesagt: „ich wollte die Freiheit, und durch diese Freiheit Nationalglück mit Ausnahme der Schuster.“ —
§38
Gegen die Säumigkeit wird in Herrn Wönigers Schrift durch ein niederschmetterndes Dilemma processirt; übrigens scheint die Ansicht etwas für sich zu haben: „Daß entweder der Pauperismus den Staat zertrümmern, oder daß sich der Staat durch die Volksnoth zu einer höhern Cultur aufschwingen kann.“ Ganz einfach ist hingegen zu erklären, daß eine Regierung die Quellen der Armuth nicht stopfen kann, wenn sie die Quellen des Reichthums öffnet; überhaupt wenn die Sache schon so weit gediehen ist, daß kaum noch Hülfe möglich ist. Auf welche Weise soll eine Regierung die Quellen des Reichthums öffnen? Soll sie plötzlich durch ein Prohibitivsystem der inländischen Industrie auf die Beine helfen? soll sie ihre Deposito-Gelder unter das Volk vertheilen? soll sie zugleich an alle Kapitalisten ein Gebot ergehen lassen, daß sie so und so viel Procente an die Communalkasse für des Volkes Unterhaltung liefern müßten? Daß überhaupt alle Arbeiten mit einem mal besser bezahlt würden, daß das Volk reeller existiren kann? eine solche Krankheit verlangt auch ein radical Mittel. Das Wortspiel mit den Quellen des Reichthums will also nichts sagen, um so weniger da es als Basis dienen soll, den Geist zu begreifen, in dem die Frage gestellt ist, durch welche Mittel der Staat einer überhandnehmenden Armuth wehren könne.
§39
Wir haben vorhin gesagt: daß der Staat eine doppelte Aufgabe zu leisten hat; erstens für seine Integrität, und zweitens für des Volkes Wohlfarth zu sorgen. Seine Selbstständigkeit nach außen hat er zunächst im Auge. Wird sie von innen durch irgend eine Erscheinung gefährdet, dann ist ihm jedenfalls damit gedient, hinter die Ursachen zu kommen, um ihren Effektiv-Bestand durch mitgetheilte Wahrheiten messen zu können. Geschieht dies: dann läßt sich eher sagen, daß durch nackte Darstellung der Grundübel die Heilmittel sich gewissermaßen aussprechen können. Ich hätte gegen das System der vorliegenden Schrift in der Behandlung der Volksnoth gar nichts einzuwenden, wenn es in der Behandlung der Elemente consequent durchgeführt wäre.
§40
Da es sich aber auf den Grundgedanken des Comnismus beruft, welcher ausdrücklich darin liegt, daß die Staatenwelt die Volksnoth erzeugt, so war vorauszusehen, daß bei der ersten schwierigen Stelle durch einen Sprung das ganze Gebäude mit über den Haufen gerennt werde. Wir lassen den Grundgedanken buchstäblich folgen, dann wird sich bald zeigen, ob sich für Jedermanns Anschauung die nackten Thatsachen vorfinden und wie viel noch zu thun sein wird, sie alle ans Tageslicht zu stellen.
§41
„Die Quellen der Armuth entspringen dem Gesammtzustande der modernen Zeit: Das Leben mit allen seinen complicirten Verhältnissen in Familien-Staat und Volkswesen gebiehrt den Pauperismus; die Tendenzen der Gegenwart vielfach verschieden nach Grund und Richtung sind seine Weihe. Mit dieser Grundansicht treten wir der ersten Methode der Litteratur entgegen, indem wir uns lossagen von jeglichem aprioristischen Princip und an die Stelle der halbwahren ideellen, deshalb subjektiven Gedankeneinheit, das praktische objektive und einheitliche Wesen der Dinge setzen. Wir entfernen uns aber gleich sehr von der zweiten Richtung, indem wir, anstatt regellos hineinzuspähen in die menschlichen Verhältnisse, und für erschöpfend zu erachten, was zufällig dem Auge begegnet, das Leben in seiner Totalität zur Grundlage unserer Untersuchung machen. Hierbei stoßen wir allerdings auf eine Schwierigkeit. Die Schwäche der menschlichen Denkraft zeigt sich unfähig, die Natur in ihren zahllosen Uebergängen zu verfolgen: Der Geist würde sich ohne das Hülfsmittel künstlicher Grenzmarken in ihren Labirynthen verlieren, er bedarf eines Führers, der ihn durch das Chaos der Eindrücke hindurch leite. Wo sind diese Hülfsmittel, wie dieser Führer zu finden? – Sie bietet das System.“
§42
Die Erläuterung solcher populairer Redeweise wäre nun folgende: „Da es der menschlichen Unzulänglichkeit nicht gelingen kann, in den Fragen der Volksnoth den Weg eines vorgesteckten Ziels, ohne sich zu verirren, verfolgen zu können, so ist es nothwendig, daß man sich in den dunkeln Gängen eines Führers bedient, der einem gleichsam die Laterne trägt.“ Sobald ich eines Führers bedarf, kenne ich den Weg, die Richtung meines vorgesteckten Ziels natürlich zu wenig um die Strecke ohne Gefahren wie ich sie mir vorstelle, allein durchlaufen zu können. Die Begleitung kann mir allerdings nützen, wenn auch des Führers Laternenlicht oder Kiehnfackel in den Irrgängen des menschlichen Elendes nicht als lebendige Flamme brennt, sondern durch die in geschlossenen Räumen zusammengepreßte Luft ein magisches Halbdunkel, einen verzweifelten Reflex auf mich wirft, so müssen meine Augen mit organischer Kraft bewaffnet sein, das Chaos zu durchdringen, um sich unversehrt in der freien Wirklichkeit wiederzufinden. Der Litteraten-Weg wird aus mehr als einer Ursache immer ein krummer bleiben, wenn das Subjekt, das ihn betritt, nicht den Muth hat ihn zu ebnen; oder wenn die Hindernisse seine Kräfte übersteigen. Das Resultat seiner mathematischen Operation concentrirt sich auf den Punkt: daß ein Schriftsteller die vorhandenen litterarischen Produkte nothwendig zu benußen habe, um dieselben mit seinen eignen Ergebnissen zu vergleichen. Auf diese Weise ließe sich die „approximative Richtigkeit“ im System am besten aufstellen. Die angeführten Quellen seien fast alle durch Untersuchungen aus dem wirklichen Leben mit falschen Ansichten durchkreuzt, indem sie wie Wöniger sagt: nicht aus dem Weltsystem, sondern unmittelbar aus ihrem Wirkungskreise die Fragen der Volks-noth zu entziffern suchten. Und dies will mir auch nach unsern Verhältnissen viel zweckmäßiger erscheinen, da erstens die Localverhältnisse unendlich verschieden sind, und zweitens aus dem System des Herrn Wöniger nur dann etwas großes allgemeines hervorgehen kann, wenn ein Schriftsteller das Leben mit allen seinen complicirten Verhältnissen kennt, wenn er alle Nationalitäten, alle Gesetzgebungen, wenn er alle die Einwirkungen auf diese Erscheinung im Staatensystem herausgefunden hat; dann kann sein Machwerk einen welthistorischen Werth erhalten, durch Dienst den er dem Gesammtinteresse in der schwierigsten Frage der modernen Staatenwelt geleistet hat. So lange aber die große Aufgabe die Kräfte überbietet, ist es besser man sucht sich der Wahrheit zu bemeistern auf Weg und Steg, und sucht durch Darstellung derselben der Regierung wie dem Volke nützlich zu sein.