§ 1
Die Arbeiten und Schöpfungen Deiner Jugend sind die Ruhe Deines Alters.
§ 2
Der alte Herr war zwar in seiner Jugend ein eben so arger Faulenzer, wie er es jezt ist, da er hoch in den Funfzigern steht: und doch ruht er in seinem Alter aus, gleich als hätte er die Erde umreist, oder einen Band Gedichte geschrieben, oder sich einmal seiner Ehre wegen geschossen. Nur Eines hat er gethan: geheirathet; ist ihm gleichgiltig; die Tochter ist Alles in Allem. Nur ein hagerer vierzigjähriger Junggeselle, der ihm nur eine Schöpfung hat er ins Leben gerufen: eine Tochter. Und selbst dies Meisterstück war ihm erst nach einer zehnjährigen Ehe gelungen.
§ 3
Darum ist ihm seine Tochter nun unentbehrlich. Er hat sie zu einer gebildeten Dame machen lassen: nach Tische muß sie ihn durch Clavierspiel in Schlaf musiciren, seinen Mittagsschlaf muß sie bewachen, des Abends muß sie ihm vorlesen. Und er ist auf sie so eifersüchtig, er fürchtet so sehr, sie zu verlieren, daß er jeden jungen Mann, der sie anzublicken wagt, morden möchte. Er sieht keine Gesellschaft bei sich, nur der Freund, der ihm ungefährlich scheint, besucht ihn zuweilen und seit einigen Monaten ist er gezwungen, einen jungen Verwandten, einen Arzt, der seiner kränklichen Frau hin und wieder ein Tränkchen verschreibt, zu Tische bei sich zu sehen.
§ 4
Wie kommt's, daß in der lezten Zeit sein Schlaf weniger ruhig ist, als früher, daß seine Stirn manchmal gefaltet ist, als hätte er einen Gedanken?
§ 5
Seine Tochter ist jezt siebzehn Jahr, sie ist ihm wohl zu klug geworden; sie untersteht sich, ihre Vorlesungen manchmal durch eine Bemerkung, ein Urtheil zu unterbrechen, als wäre es von ihm zu verlangen, daß er genau auf den Sinn dessen, was sie ihm liest, merke. Und wenn er sie nun gar tadelt, wenn er ihr, wie früher, Lehren giebt, da antwortet sie mit lauter schönen Redensarten und weist ihn zurecht. Ist das nicht störend? Ist es nicht zum davonlaufen, wenn das Kind zum Menschen wird?
§ 6
Es ist dem alten Herrn, als ob seine Tochter von ihm abfallen, als ob sie ihm ungetreu werden wollte; das erzeugt eine Leere, eine Mißstimmung in ihm, welche er an seiner Frau auszulassen sucht; er schmält, er zankt: doch er bringt es nicht dahin, seine Frau böse zu machen, welche überglücklich ist, als sie sieht, daß der alte Herr sich wieder einmal in irgend einer Weise mit ihr beschäftigt. Er sehnt sich nach Thätigkeit; er muß Etwas schaffen: er muß aus dem Hause. Er hört jezt genauer auf die Romane, welche seine Tochter ihm vorliest, und der lezte Roman hat ihn recht neugierig gemacht, die Welt wiederzusehen, die er seit Jahren nicht beachtet.
§ 7
Endlich spricht er sich gegen den Hageren aus. Eines Nachmittags, als dieser gekommen, um in aller Seelenruhe und Freundlichkeit den Kafe in dem schönen und sittlichen Familienkreise des alten Herrn einzunehmen, wird er zu seiner Verwunderung und zu seinem Aerger vom Freunde in eine Nebenstube geführt. Der Hagere aber erstarrt fast vor Verwunderung, als der alte Herr ihn in folgender Weise anredet:
§ 8
„Der Mensch, lieber alter Freund, ist zum Handeln geschaffen: die schönen Kräfte, welche Natur ihm geschenkt, muß er benußen; und für wen? Für seinen Nächsten. Es ist wahrhaft entseßlich, daß so viele unserer Brüder, die doch Hände und Füße und Augen und Ohren und Nasen wie wir haben, in Elend dahinschmachten, daß sie nicht wissen, womit sie ihre Blöße decken sollen, und in ihrer Verzweiflung in Laster und Entsittlichung verfallen."
§ 9
Der alte Herr schweigt vor Erschöpfung, der Hagere vor Erstaunen. Zum Teufel, was glotzen Sie mich so an," fährt der alte Herr endlich auf.
§ 10
„Aber, mein Gott, ich verstehe Sie nicht, erwidert der Hagere. Sie, die Sie so ruhig und glücklich leben, Ihre Renten pünktlich beziehen und, wie ich wohl vermuthen darf, in Ihrem Leben nicht Einmal gehungert haben: was wissen Sie von der Noth und von dem Elend, was fürchten Sie davon?"
§ 11
„Fürchten? Nichts. Doch Sie Fühlloser, bedenken Sie, es sind unsere Brüder, unsere Mitmenschen, die da leiden. Und wenn ich ihre Noth auch nicht mit eigenen Augen gesehen, meine Tochter liest mir doch Bücher genug vor, aus den Büchern bin ich mit den Zuständen meiner Mitmenschen bekannt geworden, und man müßte ja ein Herz von Stein haben, wenn man da nicht trösten, helfen wollte."
§ 12
„Ich begreife immer noch nicht"
§ 13
„Was? Sie begreifen nicht nicht!"
§ 14
Und nach diesem Ausrufe bleiben die beiden Freunde wieder lange Zeit sprachlos neben einander sizen. Endlich schlägt der Hagere nach einer Fliege, welche ihm um die Nase summt. „Der Kaffe wird kalt werden," sagt der Hagere. „Ja, meine Tochter wird warten," sagt der alte Herr: und die beiden Freunde begeben sich zu der Familie zurück.
§ 15
Hier finden sie den Arzt, der die Abwesenheit des Vaters benußt hat und mit der Tochter gar angelegentlich spricht. Der alte Herr achtet zum ersten Male nicht darauf; der Hagere aber wird roth, er ist während des ganzen Nachmittags verstimmt: als er geht, bittet ihn der alte Herr dringend, morgen wiederzukommen.
§ 16
„Ich fürchte sehr, sagt der Hagere unterwegs zum Arzte, daß unserem alten Freunde etwas zugestoßen ist. Thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich morgen nicht mit ihm allein, er wird mich beiseit führen wollen, und dann folgen Sie uns."
§ 17
„Meine Freunde, sagt der alte Herr am nächsten Tage zum Hagern und zum Arzte, ich versichere Ihnen, schreckliche Träume verfolgen mich, seit mir meine Tochter eine Schilderung der Volksnoth vorgelesen. Es ist mir oft, als ob die Kissen unter mir sich in Stein verwandeln; und dann kommen mir meine Tapeten wie Lumpen vor und meine Louisdor's wie Rechenpfennige. Meine Frau verwandelt sich in eine Lumpensammlerin und mein Diener erscheint mir wie ein Räuber, der sich nächstens für die lange Abhängigkeit, in der er geschmachtet, rächen wird. Und meine Tochter! o, das wage ich Ihnen gar nicht zu sagen: so viel ist aber gewiß, Niemand ist werth, meine Tochter dereinst als Gattin zu besißen, der sich nicht hier mit mir verbindet, der Armuth und der Verworfenheit zu helfen."
§ 18
Der Hagere horcht bei diesen leßten Worten auf. „Würdiger Menschenfreund, sagt er, wie sehr habe ich Sie bisher verkannt, und welche neue Kräfte fühle ich in mir erwachen. Ja, ich verbinde mich mit Ihnen zu gemeinschaftlichem, Christlichem Wirken. Und Sie, Herr Doctor?“
§ 19
„Ich weiß noch nicht, was unser geehrter Freund will.“
§ 20
„Was ich meine? Herr Doctor, nun das, dächte ich, ist klar genug: helfen, tröstend eingreifen mit Wort und That, unseren Mitmenschen zeigen, daß wir ein fühlend Herz in der Brust haben.“
§ 22
„Das findet sich, wenn man nur den Willen hat. Für's Erste natürlich müssen wir die Zustände kennen lernen, in die wir fördernd eingreifen wollen. Aber ach, wie groß ist das Feld des Elends, ein Einziger ist nicht fähig, es zu durcharbeiten; ich muß Genossen haben. Da sind zuerst die verschämten Armen, die Opfer unverschuldeten Elends, die krank auf faulem Stroh in Kellern liegen und eher umkommen, ehe sie ihre Noth zur Schau tragen. Dann kommen die Diebe, die Verbrecher, denen die Noth das Gewissen und das Christenthum genommen. Und dann, ach dann, bedenken Sie, meine Herren, jene fürchterliche Einrichtung, wonach tausende von blühenden und unschuldigen Mädchen des leidigen Erwerbs wegen den Lüsten frecher Wüstlinge geopfert werden. Ich nehme es auf mich, gegen diese lettere Einrichtung einen Kriegszug zu beginnen.“
§ 23
„Sie meinen die Hurerei,“ bemerkt der Doctor. „Sie wollen den Huren Ihre Aufmerksamkeit schenken?“
§ 24
Der alte Herr und der Hagere schaudern.
§ 25
„Ich meine,“ wiederholte der alte Herr ganz verlegen, „ich meine jene verwerfliche Einrichtung, wodurch junge und unschuldige Mädchen –“
§ 26
„Kurz und gut, die Hurerei.“
§ 27
„Aber mein Gott, was sind das für Ausdrücke,“ fährt der Hagere auf.
§ 28
„Meine Frau, meine Tochter werden doch nichts hören,“ bemerkt der alte Herr ganz kleinlaut, indem er scheu nach der Thür sieht.
§ 29
„Ja so, ich merke,“ fährt der Doctor ganz gelassen fort, „Sie erblicken in der Hure nicht die Hure, sondern das unschuldige Mädchen. Sie, Sie wollen der Hurerei abhelfen und wagen sie nicht einmal bei Namen zu nennen! Sehen Sie, wenn ich zu einem Kranken gerufen werde, so darf ich ihn auch nicht als Gesunden auffassen, ich muß seine Krankheit nehmen, so wie sie ist, sie muß ich ohne Scheu, ohne Rücksicht studiren, das Ekelhafteste darf mich nicht ekeln und es ist mir nicht gestattet, die Kräße etwa einen gelinden Hautausschlag zu nennen. Parfümieren Sie, so viel Sie wollen, den Misthaufen, er bleibt immer Misthaufen. Zu der Reinigung eines Augiasstalles gehört ein Hercules, der sich nicht kümmert, ob sein Fuß in den Koth tritt und dem es gleichgiltig ist, ob er in guter Gesellschaft wegen seiner Beschäftigung etwas anrüchig ist.“
§ 30
Schon droht die Unterhaltung ein ähnliches Ende nehmen zu wollen, wie gestern. Der Hagere ist innerlich froh, daß es mit dem Kreuzzuge der wohlthätigen Seelen ins Land des Elends nichts werden wird. Er und der Arzt wenden sich, um in das Familienzimmer zurückzugehen: da ruft sie der alte Herr ängstlich:
§ 31
„Aber meine Herren, müssen wir denn Herculesse seien, um unseren Mitmenschen zu helfen? Ich lasse mich nicht davon abbringen, ich will einmal thätig, religiös thätig sein. Und wenn Sie es schlechterdings so wollen, Herr Doctor; nun gut, es sind die Huren“ — er sieht sich scheu um — „ja, die Huren, und noch einmal die Huren“ — das letztemal schreit er mit verwegner lauter Stimme, „um deren Lebensart ich mich als guter Christ kümmern will. Ueberlegen Sie sich die Sache, meine Herren, besonders Sie, mein alter, erprobter Freund; und ich werde morgen vernehmen, ob Sie mir in meinem Werke der Menschenliebe beistehen wollen.“
§ 32
Es war doch recht fatal, daß der Hagere sich zu Etwas entschließen sollte; und noch dazu ohne freien Antrieb sich den launischen Einfällen eines Faulenzers beugen zu müssen. Die Kafegesellschaft am nächsten Tage war gar nicht so gemüthlich wie sonst. Die alte Dame, die bisher mit immer gleicher Freundlichkeit den Kafe eingeschenkt, selbst sie ist heut zerstreut: nicht mehr widmet sie ihre ganze Aufmerksamkeit der richtigen Mischung des schwarzen Getränkes mit Sahne und Zucker: nicht mehr ist ihr lächelndes Gesicht, mit dem sie die Tassen herumreichte, eine freundliche Einladung zum Trinken: nein, heut sieht sie scheu und verwundert nach dem Papa, der so unruhig nachzudenken und auf Etwas zu warten scheint: in die eine Tasse schüttet sie zu viel Kafe, in die andere wirft sie keinen Zucker; es stimmt nicht und will nicht stimmen. Der Hagere ist verlegen und merkt nicht einmal, daß er den Kafe heut bitter trinkt; nur der Arzt und die Tochter können sich ganz ungestört Blicke munteren Einverständnisses zuwerfen; sie müssen heut noch etwas Besonderes vorhaben.
§ 33
„Recht klarer Himmel heut,“ platzt der Hagere heraus.
§ 34
„Ja, klarer Himmel,“ erwiedert der alte Herr ganz unwirsch, „aber schneidende Luft, pfeifender Schnee. Was hilft der klare Himmel, wenn so viele Tausende unter ihm frieren müssen und nicht haben, wohin sie ihr Haupt legen.“
§ 35
Lange Pause; die alte Dame und der Hagere blicken betrübt in den Schooß. Endlich athmet der Hagere tief auf und bemerkt:
§ 36
„Als ich die Linden heraufkam, wimmelte es von Spaziergängern. Schön geputzte Damen, mein Fräulein .....“
§ 37
„Ach was, schöngeputzt,“ unterbricht ihn Papa. „Schöner Putz und ein blutend Herz, schöner Putz und ein verdorben Gemüth.“
§ 39
„Ja, sagt das Fräulein, indem sie dem Hageren einen lieben Blick zuwirft, „mildthätig handeln, den Gefallenen erheben und trösten, das ist der Beruf des edlen Menschen. Ich erkläre, nur denjenigen für einen echten Mann halten zu wollen, der seine Kraft der leidenden Menschheit widmet.“
§ 40
Hatte der Vater sie gebeten, so zu sprechen? Es scheint nicht, denn er selber schaut zu seiner Tochter verwundert auf.
§ 41
Der Arzt lächelt ihr ironischen Beifall zu, den Hageren hättest Du aber sehen sollen, wie sein Gesicht sich röthet, wie sein Leib sich emporreckt, wie es ihm keine Ruhe läßt auf seinem Sitze, wie er endlich aufspringt den alten Herrn würdevoll beiseit winkt, ihm zu erklären, daß er fortan das Leben der Diebe nicht unbemerkt lassen, nein daß er in die Spelunken dieser Mitmenschen und gefallenen Brüder herabsteigen, daß er ihr Treiben und ihren Charakter studiren, daß er es versuchen wolle, sie zu geläuterten und sittlichen Ansichten zurückzuführen. Und sollte ihm das auch nicht gelingen, so werde er wenigstens ihr Leben darstellen und diesen faulen Fleck der menschlichen Gesellschaft für den späteren Arzt schildern.
§ 42
Eine stumme Umarmung folgt dieser Erklärung; der Hagere ist zu aufgeregt, um bleiben zu können. Unendliche Hohheit in Gesicht und Gang nähert er sich der Tochter des alten Herrn, neigt sich vor ihr, daß seine Knie fast sich zur Erde zu beugen scheinen, und als hätte er den Ritterschlag empfangen, schreitet er von dannen.
§ 43
Den Arzt aber sieht der alte Herr nun fast mit verächtlichen Blicken an, bis auch dieser ihm erklärt, daß er schon durch seinen Beruf darauf hingewiesen sei, kranken Armen zu helfen, daß er fortan aber vorzüglich diesen seine Thätigkeit widmen wolle.
§ 44
Da ist es dem alten Herrn, als hätte er einen Bund geschlossen, der mit Einem Male aller Noth auf Erden ein Ende machen werde. Der Gedanke an das Elend plagt ihn weniger, sein Gewissen ist beruhigt und die Kissen unter ihm kommen ihm nicht mehr wie Kieselsteine vor.
§ 45
Ueber die Befriedigung, die er fühlt, vergißt er seinen Entschluß. Es vergehen zwei, drei Tage, und der Hagere wartet vergebens, daß die Freunde nun in Gemeinschaft den Plan zu ihrem Kreuzzuge entwerfen; der alte Herr bleibt stumm. Aber der Hagere ist nicht der Mann, der eine in heiligem Momente gefaßte Entschließung fahren ließe, jetzt ist die Reihe an ihm, den Papa zu erinnern und anzutreiben.
§ 46
„Herr Jesus,“ sagt der alte Herr ganz entrüstet, „welche Eile! Sie lassen Einen ja gar nicht zur Besinnung kommen: gut Ding will Weile haben.“
§ 47
„Wir hatten Zeit genug, uns zu besinnen,“ erwidert der Hagere; „jetzt frisch an's Werk: erinnern Sie sich nicht der Worte Ihrer Tochter? Wollen Sie an Edelmuth hinter diesem holden Kinde zurückbleiben? Es ist der Beruf der Männer, was das schöne Geschlecht edel erkannt, thatkräftig auszuführen.“
§ 48
Und er läßt dem alten Herrn keine Ruhe, er bringt ihn in Hitze und dieser entschließt sich endlich, die Vorbereitungen zu seinem Zuge zu treffen. Vierzehn Tage lang geht es jetzt unordentlich in seinem Hause her, sein Mantel muß täglich gereinigt, seine Leibbinde muß täglich gewärmt, seine lange Weste täglich zurechtgelegt werden. Alle Abend will er ausgehen; und alle Abend bleibt er im Lehnstuhl am Ofen sitzen. Er schläft ein, unruhige Träume umschweben sein Haupt: da sieht er lachende Mädchengesichter, die sich in Todtenköpfe verwandeln; rosafarbene Unterröcke fliegen auf und nieder, Schminktöpfe grinsen ihm entgegen; und wenn er dann erschreckt aufwacht, ist es zehn Uhr, die Weste wird wieder beiseit gelegt, der Mantel in den Schrank gehängt, und die alte Dame sieht ihn besorgt von der Seite an.
§ 49
Nein, das ist nicht mehr zu ertragen, endlich muß gehandelt sein. Nachdem der alte Herr den Sonntag vorher in der Kirche gebetet, begiebt er sich am Montag Abend auf die Wanderung.
§ 50
Wohl ziehen viele hübsche Mädchen an ihm vorüber, er aber wagt nicht, sie anzureden: da kommt Eine, er steht unschlüssig, husch ist sie vorbei: wieder Eine, er eilt ihr nach, schon ist er dicht bei ihr, da fällt ihm ein, ob ihn auch kein Bekannter bei seiner Gutthat beobachte; er sieht sich scheu um, und noch einmal um, und immer schüchterner um: da steht er wieder allein und verlassen. Siehe, da kommt ein weibliches Wesen, recht gemessenen Schrittes und züchtig gekleidet, die wird dir Rede stehen; den Mantelkragen über's Gesicht, die Stimme verstellt und heran an sie.
§ 51
„So ganz ohne Begleiter, schöne Dame?“
§ 52
Keine Antwort. „Dürfte ich Sie nicht bis an Ihre Hausthür führen?“ Immer keine Antwort. Endlich unter einer Laterne sieht die Dame nach ihrem galanten Begleiter auf; dieser blickt ihr in's holde Antlitz — Gott! es ist seine Frau. Der alte Herr springt seitwärts und muß sich an einen Thorweg lehnen. Wenn Sie Dich erkannt hat! Schon glaubt der alte Herr ihre Stimme zu hören: „also auf solchen Schlichen entdeckt man Dich, Du alter Sünder!“; schon sieht er im Geiste, wie er beschämt an ihrer Seite nach Hause wandert.
§ 53
„Nun alter Herr, was fehlt Ihnen denn?“ Er fährt aus seiner Erstarrung auf, die Straße ist fast leer geworden, nur ein ältliches Mädchen steht vor ihm. „Ach, bist Du der Engel, den ich suche,“ redet er sie an: „wirst Du es dulden, wenn ich Dich begleite, und wirst Du mir Deine Geschichte erzählen?“
§ 54
„Ach was, Geschichte erzählen, ich weiß, was Sie wollen; ich merke schon, Sie sind auch Einer von den alten Schleichern; nun, nur mitgekommen.“
§ 55
„Verworfene!“ platzt der alte Herr heraus, doch er besinnt sich schnell und klopft ihr auf die Schulter: „entschuldigen Sie, Theuerste, ich vergaß mich: sind Sie doch auch ein Mensch, ein Mitmensch, den ich ehren, eine Schwester, der ich helfen soll!“
§ 56
„Nun ja, ich hoffe, daß Sie Geld in der Tasche haben.“
§ 57
„Haben Sie noch weit bis zu Hause?“
§ 58
„Nur ein Paar Häuser vor dem Thore.“
§ 59
Endlich langen sie an; der alte Herr muß drei Treppen hoch steigen, oben fällt er ganz erschöpft, ganz sinnverwirrt in einen Stuhl, er wagt nicht daran zu denken, wo er ist, er wagt nicht aufzusehen; er merkt nur, daß seine Wirthin vor ihm steht und ihn wohl staunend ansehen mag.
§ 60
„Was ist Ihnen denn eigentlich gefällig?“ redet sie ihn an.
§ 62
„Was Sie wünschen, frage ich Sie.“
§ 63
„Ach mein liebes, gutes Kind, lassen Sie mich doch nur erst zur Besinnung kommen. Am liebsten wär' mir's, wenn Sie mir eine Tasse Thee kochten und mich dann in Ruhe wieder gehen ließen. Da, hier nehmen Sie, da ist ein Thaler, besorgen Sie etwas Gebäck dazu."
§ 64
Sie ist versöhnt: Thee und Gebäck stehen in Geschwindigkeit auf dem Tische, ein kleines Feuer prasselt im Ofen, es wird dem alten Herrn ordentlich gemüthlich, er wird zutraulich, erklärt dem Mädchen, daß er sie bedaure, daß er ihr helfen wolle, sie möge ihm nun auch ihre Geschichte erzählen. Das Mädchen besinnt sich eine kleine Weile und dann hebt sie an:
§ 65
„Meinen Vater habe ich nie gesehen, ich glaube er war hohen Standes, er zahlte meiner Mutter monatlich die Paar Thaler, die ihn das Gesetz zu zahlen zwang, und bekümmerte sich nicht weiter um sie oder um mich. Meine Mutter erzählte mir später, daß sie in den ersten Jahren meiner Kindheit viel durch mich zu leiden hatte; ich war kränklich, sie mußte mich den ganzen Tag pflegen, konnte nicht arbeiten und was halfen ihr die drei Thaler, welche ihr Verführer ihr jeden ersten auszahlen ließ? Damit konnte sie kaum das Bischen Miethe bezahlen und uns täglich eine Wassersuppe kochen: wir schliefen auf Stroh, ich schrie und sie weinte."
§ 66
„Armes Mädchen," sagt der alte Herr, und drückt ihr einen Thaler in die Hand.
§ 67
„Als ich heranwuchs, bekam meine Mutter mit Kummer und Mühe eine Aufwartstelle, und ich ging mit Bilderbogen, mit Chocolade und mit Blumen handeln. So verstrich meine Jugend; mein einziger Kummer war, wenn ich mal in einem Wirthshause, wo ich meine Waaren feil bot und das Glas Punsch der feinen Herrn zu begierig ansah, vor die Thür geworfen wurde; meine einzige Freude, wenn mir jemand einen Groschen schenkte und nichts abkaufte."
§ 68
„Armes Mädchen." Wieder einen Thaler.
§ 69
„Später wurde ich zum Prediger geschickt, mußte aber meinem Gedächtniß einige Bibelsprüche und Gesangbuchverse einprägen, und ward eingesegnet, aber mit Noth und Mühe, denn der Herr Pfarrer wollte mich erst gar nicht einsegnen, weil ich nicht lesen konnte."
§ 70
„Jezt kommt eine Zeit, aus der ich Ihnen Nichts erzählen werde."
§ 72
„Weil ich nicht will. Kurz und gut, ich wußte mich nicht so in mein Schicksal zu finden wie meine Mutter, ich war einmal nach der Bekanntschaft, die ich gemacht hatte, an den Puß und an das gute Leben gewöhnt, und ging zu einer Verkäuferin."
§ 73
„Zu einer Verkäuferin! Was ist das."
§ 74
„Das sollen Sie gleich hören. Ich ging also zu einer Verkäuferin, und fragte sie, ob sie nicht irgendwo eine Stelle offen wüßte."
§ 75
„Was für eine Stelle?"
§ 76
„Welche zudringliche Neugier! Sie Tölpel, können Sie sich denn das nicht denken? Kurz, eine Stelle als Freudenmädchen."
§ 77
Der alte Herr schaudert. Seelenverkäufer, ich möchte Euch das Handwerk legen, schreit er in sich hinein.
§ 78
„Die Verkäuferin," fährt jene fort, „die Verkäuferin antwortet auf meine Anfrage, sie wisse jezt im Augenblick keine Stelle; aber sie wolle schon Rath schaffen; dann mustert sie mich von oben bis unten und findet, daß mit mir ein gutes Geschäft zu machen sei. Wie gesagt, ich weiß im Augenblick keine Stelle, aber du kannst unterdessen bei mir wohnen, essen und trinken, es soll Dir an Nichts fehlen: ich bin auch nicht so; bist Du erst untergebracht, so wird es Dir ein leichtes sein, mich zu bezahlen. Drauf miethe ich mich bei ihr ein, lebe lustig und in Freuden; indessen geht sie zu einer Wirthschaftshalterin."
§ 79
„Wirthschaftshalterin? Was ist das?"
§ 80
„Sie civilisirter Dummkopf, wenn Sie das nicht wissen, so brauchen Sie's auch nicht zu wissen. Die Verkäuferin geht also zur Wirthschaftshalterin und sagt zu ihr: da habe ich ein Mädchen, ein junges und sehr schönes Mädchen, gerade so eine, wie Sie brauchen können, aber sie hat bei mir gewohnt und ist mir viel schuldig. Nun, nun, sagt die Wirthschaftshalterin, ich werde Sie schon bezahlen, bringen Sie das Mädchen nur zu mir. Die Verkäuferinn kommt zurück. Mein Püppchen, sagt sie zu mir, ich habe eine Stelle für Dich, Du wirst herrlich leben; Alles, was Du verdienst, ist Dein, Du kannst schlafen wann Du willst, ausfahren wann Du willst, tanzen wann Du willst, dich putzen wie Du willst, lieben wen du willst, Du wirst in Golde schwimmen: aber eine Liebe ist der andern werth; du weißt, ich hab' Ausgaben für dich gehabt, viel Ausgaben; schadet Nichts, die gute Wirthschafterin wird für Dich bezahlen, sage ihr, Du wärest mir hundert Thaler schuldig, dann bekomme ich hundert Thaler und uns beiden ist geholfen. Hundert Thaler, denke ich, Kleinigkeit! werde ich doch im Golde schwimmen; zugeschlagen; die Wirthschafterin zahlt der Verkäuferin achtzig Thaler und ich bin der Wirthschafterin hundert Thaler schuldig. Nun geht das Leiden an. Was Du verdienst ist Dein;" ja wohl, ein Paar Groschen davon, die ich der Wirthschafterin für Logis, Essen und Staat geben muß. Du kannst schlafen wenn Du willst;" ja wohl, Morgens um acht Uhr heißt's heraus ihr Dirnen und den ganzen Tag über freundliche Gesichter gemacht. Du kannst ausfahren wenn Du willst," ja wohl, wenn Du der Wirthschafterin für die Zeit, in der sie durch Dich verdienen könnte, bezahlst."
§ 81
„Armes Mädchen." Wieder ein Thaler.
§ 82
„Und doch sparte ich mir nach und nach so viel, daß ich der Wirthschafterin einen Theil meiner Schulden bezahlen konnte. Ein reicher Herr zahlte das Uebrige, kaufte mich aus, starb aber bald darauf, und da bin ich nun."
§ 83
„Armes Mädchen, ich möchte so gern etwas für Sie thun. Sagen Sie mir, wie soll ich Ihnen helfen?"
§ 84
„Helfen, mir helfen; Gutmüthiger, wie wollten Sie das anfangen? Wollen Sie mir Geld geben? Sie können mir doch kein Capital geben, von dessen Zinsen ich leben könnte. Und gesezt den Fall, Sie hätten so viel Geld, so würden Sie mir's doch nicht geben wollen. Ich bin also immer auf meinen eigenen Verdienst angewiesen. Aber ich soll arbeiten, dienen? Nun gut, ich habe Lust dazu: aufrichtig! möchten Sie mich in Dienst nehmen wollen? Sie haben vielleicht eine Frau, die duldet mich nicht im Hause; und sie würde, wenn Sie mich mit Gewalt in Ihr Haus nehmen wollten, jeden anderen Bewegungsgrund bei Ihnen voraussetzen, nur den Edelmuth nicht und die Menschenliebe.“
§ 85
„Ach meine Frau,“ sagt der alte Herr, denkt an die Begegnung am Thorwege und seufzt.
§ 86
„Oder Sie haben vielleicht eine Tochter,“ fährt das Mädchen fort. „Würden Sie mich gern in ihrer Nähe sehen, bin ich nicht verworfen und passe ich noch in die Gesellschaft ehrlicher Leute?“
§ 87
„Ach meine Tochter,“ seufzt der alte Herr weiter; er erinnert sich, daß die um ihn in Angst sein wird, und was sie dazu sagen würde, wenn sie wüßte, in welcher Gesellschaft er sich herumtreibe; er seufzt noch einmal, greift schnell nach seinem Mantel, drückt dem Mädchen noch einen Thaler in die Hand, verspricht bald wiederzukommen, setzt den Hut auf und öffnet die Thür.
§ 88
Da hört er auf dem unteren Flur verworrenes Toben; es ist ihm, als solle Jemand zur Thür hinausgeworfen werden.
§ 89
„Niederträchtige Diebe,“ schreit Jemand.
§ 90
„Ist das nicht mein alter, guter Freund,“ ruft der alte Herr und stürzt die Treppe hinunter.
§ 91
Kaum ist das Mädchen in seine Stube zurück, als ein struppiges Gesicht durch eine Seitenthür hineinlugt; ein Mann tritt näher.
§ 92
„Heissa, Vater,“ ruft das Mädchen, „hast Du gehorcht? Habe ich meine Sache nicht gut gemacht? Morgen haben wir einen lustigen Tag: die Mutter muß Braten machen und geschmorte Pflaumen dazu, und wir wollen auch einmal Wein trinken. Der alte Narr hat mir genug zu schaffen gemacht, ich mußte mich auf die Geschichten aller meiner Bekannten besinnen, einmal wollt's doch nicht fort, da spielte ich die gekränkte, verwundete Seele, der alte Herr war recht gerührt. Lustig, Vater, morgen giebt's Braten und Pflaumen und Wein.“