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Carl Reichardt über Preußens Beruf in der deutschen Staats-Entwickelung, und die nächsten Bedingungen zu seiner Erfüllung von C. Brüggemann

Deutsch

Author: Carl Reichardts  Year: 1844 

§ 1 Preußens Beruf in der deutschen Staats-Entwickelung, und die nächsten Bedingungen zu seiner Erfüllung. Von C. Brüggemann. Berlin, 1843, bei Besser.
§ 2 Am 4. Februar 1843 ward eine Königl. Preußische Cabinetsordre erlassen, welche erklärte, „daß die Verfügungen vom December 1841 wegen Handhabung der Censur von den Censoren mißverstanden seien.“ Sie machte eine strengere Beaufsichtigung der Tagespresse zur Pflicht.
§ 3 Sonach war abermals eine Maßregel gegen öffentliche Volksmeinungen für gut befunden worden, deren Vergünstigung von dem Volke nach den Erbhuldigungstagen in Königsberg und Berlin mit so vieler Begeisterung aufgenommen worden war. Während die Bekanntmachung dieser Maßregel von der großen Masse ziemlich gleichgültig aufgenommen wurde, während die ganze Kaste der Geldspeculanten der rheinischen und leipziger allgemeinen Zeitung ihre Niederlage gönnte, erklärten die liberalen Publicisten: „der Sinn für Oeffentlichkeit im Staate, in der Gemeinde, Gericht, Ständesaal und Presse sei einmal in der Nation unwiderstehlich erwacht, die gesetzgebende Macht werde ihn nicht dämpfen können u. s. w.“ Indessen erzeugten diese eitlen Demonstrationen keinerlei Resultat, es dauerte vielmehr nach dem Absterben der rheinischen Zeitung gar nicht sehr lange, daß zum großen Leidwesen der majorennen Kinder auch die Bilderfreiheit mit einem Interdict belegt wurde.
§ 4 Die eingetretenen Mißhelligkeiten gingen der liberalen Partei, die sich längst auf den Augenblick gefreut hatte, durch öffentliche Vorträge ihre hohlen Theorien an den Mann zu bringen, sehr zu Herzen: auch unsere Correspondenten, die außer dem Zweikammer-System der Liberalen das Heil der Nation suchten, waren mehr oder weniger bei der Sache betheiligt ein Zeitungs-Inserat über deutsche oder preußisch-vaterländische Zustände war ja leichter fabricirt, als ein Buch oder eine Broschüre. Das aber schien denen, welche glaubten: „die Radicalen hätten durch ihre destructive Tendenz der guten Sache diese Schmach bereitet,“ noch am geeignetsten: es mochte unter den subtilen Geistern die Meinung aufgetaucht sein, „ein gründlicher Nachweis der Volksmündigkeit werde das Cabinet von 1840 noch einmal für Regulirung der gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen, es werde bei dieser Inspection auf Mängel treffen, deren Beseitigung die eigene Sicherheit erfordere,“ denn schon erhob das Bettlerthum, das Proletariat wie die schlangenköpfige Hydra ihr drohendes Haupt; gegen dieses Mysterium mußte ein heiliges Gemeinwesen im treuen Wechseldienst der Stände eine treu geeinte Christenheit die Waffen des Schußes, des Widerstandes schmieden. Um diese Combination ins Leben zu rufen, gab es gutmüthige Leute, die sich an das Ultimatum von Königsberg und Berlin vom Jahr 1840 hielten, die glaubten, „alles was darin enthalten sei, werde ohne Kampf gegen die neuen Prinzipien praktisch durchgeführt werden,“ sobald es gelinge, die höhere Staatsgewalt von der Nothwendigkeit eines solchen Schrittes zu überzeugen, um so mehr, da die berufsreiche Masse ihren legten Grad politischer Bildung in jenen Tagen der Begeistrung empfangen habe.
§ 5 In einer solchen Gemüthslage erschien Herrn Brüggemanns Schrift: „Preußens Beruf in der deutschen Staats-Entwickelung, mit den nächsten Bedingungen zu seiner Erfüllung.“
§ 6 Wenn Preußen den Beruf in sich trägt, einen Schritt weiter zu gelangen, als bisher die Staaten gelangt sind, so ist anzunehmen, daß die Befähigung dieses Berufs nicht so überraschend wie die Volksmündigkeit von 1840 entstanden ist, sondern daß sich diese Annahme auf ältere Urkunden stüßt.
§ 7 Herr Brüggemann sucht uns die Gründe aus dem Gange der preußischen Geschichte mit vieler Beredsamkeit, die aber häufig mit überflüssigen Doppelsätzen angefüllt ist, zu erklären. Die Periode von 1807-1843 ist in drei Abschnitten behandelt, nehmlich:
§ 8 1) Die Zeit von 1807-1813. Sie ist bezeichnet als die Zeit des politischen Erwachens in Deutschland und Preußen.
§ 9 2) Die Restaurationszeit mit ihren Mißverständnissen und Mißgestaltungen.
§ 10 3) Die Gegenwart von 1840.
§ 11 Wir werden diesen Plan, des Interesses wegen, den ein solches Thema uns einzuflößen vermag, so wie er aufgestellt ist, nach seiner Endrichtung verfolgen; auf diesem Wege wird uns so manches klar werden. Der Verfasser spricht sich am Eingange seiner Schrift über den Thronwechsel von 1840 und über die ihn begleitenden Thatsachen also aus: „Wiederum ist im Laufe der geschichtlichen Entwickelung des Vaterlandes und vornehmlich des vaterländischen Staatswesens ein Augenblick folgenreicher Entscheidung herangekommen. Von einer bestimmten und klaren Erkennung dieses Augenblicks wird Verluste an Macht Auffassung des Inhaltes und des Berufs dieses bedeutungsvollen Augenblicks ist alles zu gewinnen. Eine längere Ver- und Ehre für Preußen und für das gesammte deutsche Vaterland nach sich ziehen. Ein treues Wort von Wohlwollen getragen, wird auch bei entgegengeseßten Ueberzeugungen eine freundliche Statt, zumal in Deutschland finden.“
§ 12 Wären diese Worte zu Deutschland in der Philisterperiode, oder wenigstens vor dem Gebrauch der Locomotiven gesprochen, vielleicht hätten sie Eingang gefunden: vielleicht auch nicht. Aber im Jahr 1843, also drei Jahre nach den Krönungsacten von Königsberg und Berlin, ist es von der deutschen Nationalität zu viel verlangt, daß sie sich, wie die Forderungen unsers Verfassers weiter lauten, für Preßfreiheit, Deffentlichkeit des Prozesses, Gleichheit der Militairverfassung auf dem Fuße wahrer Landwehren, Festungsbauten: und was überdies noch alles zu einer soliden Staatswirthschaft gehört, interessiren soll. Wir wollen Herrn Brüggemann nicht den Vorwurf machen, daß er die Geschichte Preußens, den Zustand der Gesellschaft und ihrer Verfassung nicht gründlich erschaut hätte, wenigstens zeigt seine Schrift, daß sie durch eine ziemliche Benußung von Materialien hinter die Ursachen und Verhältnisse gekommen ist, auf welche sich seine Hypothese des preußischen „Berufs“ gründet: dennoch leidet sie an dem unglückseligen Wahn, das historische Recht werde nach einigen Definitionen der Freiheit dem Volke die Zugeständnisse formeller Erklärungen entgegentragen, als ob es ein Kinderspiel wäre, eine Königskrone an den Egoismus einer Klasse Menschen zu veräußern. Sie verfällt bei allem Streben nach Gründlichkeit des Geschichtsstudiums in den Hauptfehler, leichtgläubig genug zu sein, das historische Recht werde sich durch einige dialektische Schlüsse, mit Hintanseßung seiner Rechte, seiner Sicherheit für ein liberal erträumtes Gemeinwesen bestimmen lassen. -- -- In dem weitern Verlauf dieser „räsonnirenden“ Abhandlung ist es schade um die ehrliche Denkweise; fast jedes Blatt ist hier germanisirt; fast jedes Blatt ist für die Nachkommen Herrmanns eine Warnung, vor dem Sausen und Brausen der englischen Lokomotiven hübsch munter zu bleiben, ja nicht instinktmäßig wieder einzuschlafen. Wir wissen zur Stunde selbst nicht recht, ob unsere berufsreichen Socialisten schlafen wachen oder träumen, nur so viel wissen wir, daß die Stadtverordneten der Residenz keine Oeffentlichkeit wollen. Wir haben gesehen, daß sich diese an unsere Reden nicht viel kehren, wenn auch Herr Brüggemann sagt: „es gilt die Hinüberseßung des büreaukratischen Staats in den öffentlichen, den auf der anerkannten Mündigkeit der Stände des Volkes beruhenden Staat.“ Wenn auch auf derselben Seite weiter nachgewiesen wird, „daß durch ein selbstsüchtiges Privattreiben die wahre Freiheit, die wahre Weisheit nicht gedeihen könne; sondern daß es gelte, den Staat, wie es bei den Vätern war, durch eine freie Einung freier Männer frei hinzustellen, weil dieser Sinn politischer Mündigkeit für ein in Waffen, in Freiheit, in Gehorsam erzogenes Volk zum sittlichen Bedürfniß geworden sei,“ so liegt dies alles dem Verständnisse unseres gelehrten Publikums noch viel zu fern. Wenn diese Masse schon dahin gelangt wäre, die Freiheit für ein sittliches Bedürfniß zu halten, dann möchten die Berliner Volksblätter mit ihrer, auf temporäre Volksgesinnung und staatliche Zustände reflectirenden Logik vor der Censur der „königlichen Volksfreiheit“ nicht länger bestehen können. Eine Nation, die es bis zu einer solchen „Freiheit“ gebracht hat, hält solche bellende oder achselträgerische Organe für seiner unwürdig.
§ 13 Ohne der Ehre unseres Staatsbürgerthums zu nahe zu treten, läßt sich von demselben behaupten, daß, so viel Stände, Corporationen und Mitglieder in ihm anzutreffen sind, auch eben so viele Meinungen herrschen, die mit wenigen Ausnahmen auf conservativem Boden ruhen, weil dies die bequemste Stellung selbst für diejenigen ist, die ihre Lebenszeit zum Nachdenken erhielten. Wohl verstanden! die Geldmänner nennen diese Classe „die Arbeitsscheuen:“ ihre Communialgesinnung fühlt zwar auch einen Beruf in sich, jedoch einen ganz andern, als Herr Brüggemann meint; sie fühlt nicht den Beruf der „königlichen Vollfreiheit,“ sondern den Beruf des Privilegiums, der ausschließlichen Besißnahme des Nationalvermögens. In diesem Bewußtsein glauben diese Leute nur an die Scheu des Arbeiters, nicht an die Arbeitslosigkeit. Deshalb sind ihnen die Institutionen des Bettlerthums ein Graul.
§ 14 Dieser neue Staat des christlichen Europas, gegen welchen die englische Verfassung vergebens ihre Schußmittel der Freiheit zur Selbstvertheidigung anwendet, erfüllt die Liberalen mit Besorgnissen für die Zukunft, und mit Mißtrauen gegen sich selbst. Ohne den innern Zustand der Gesellschaft zu erforschen, ohne die wahre Gesinnung der großen Masse kennen zu lernen, hält diese politische Parthei es für möglich, durch sogenannte Schußgeseße eine Allgemeinheit des materiellen Wohlstandes in einer Zeit herzustellen, wo der Egoismus einen Beruf ohne Gleichen hat, mit aller Beharrlichkeit auf dem Wege der heiligen Ehre und wahren Treue fortzuwandeln. Wer die Natur dieser nationalen Productionskraft erst ergründet hat, dem möchten sehr bald die Worte zu liberalen Phrasen fehlen, womit das Publikum auch in der Schrift über „Preußens Beruf“ gemartert wird.
§ 15 Unser Verfasser kämpft für die Idee eines neuen Germanenthums unter Preußens Vorsiz. Hier ist ihm die christliche Religion, mit der in der alten Germanenzeit, wie im ganzen Mittelalter ein eben so arger Mißbrauch getrieben worden ist, als in unserm humanisirenden Jahrhundert, zur absoluten Bedingung einer neuen Weltordnung geworden. Der Vernünftige mag billig fragen: warum diese christliche Religion nicht in der Reinheit ihrer Glaubenssätze erhalten worden ist, welche in ihr anzutreffen sind?! Ist es denn gar zu schwer, das Böse zu vermeiden? kann dies nicht eben so leicht geschehen, wie man das Gute vermeidet? Aber freilich wenn man das Gute, das Vernünftige, das Reelle, wovon jede Zeile dieser Religion spricht, stets so in Ausführung bringen wollte, würde das Privatinteresse seine Rechnung nicht finden. Diese Religion, welche uns nach den Resultaten ihrer Anwendung keinen sehr hohen Begriff für die Sache der Menschheit abgewinnen kann, erkennt Herr Brüggemann für die Himmelspforte aller Volks-Glückseligkeit. Es heißt: „die Religion eines Volkes ist die Seele seiner Geschichte! — In diesem Sinne verehren wir im Eintritte des Christenthums den Anfang einer ganz neuen sittlichen Welt und einer neuen Reihe politischer Entwicklungen. Als charakteristisch für die neue, die christliche Rechtsidee müssen wir bezeichnen: - die Befreiung von der Außerlichkeit einer bloßen Privatfreiheit, im Maaße eines reinen Privateigenthums, durch die Ahnung einer höhern Freiheit, im Maaße der Liebe und der Durchdringung der Privaten zu einem wahren Gemeinwesen königlicher Vollfreiheit.“
§ 16 Was weiter zu dem staatsvölkerlichen Beruf Preußens gehört, und welche Stelle die christliche Religion bei dem großen Reformwerk der Menschwerdung spielt, wird von Herrn Brüggemann in der Ausführung der vorhergehenden Stelle in seiner Schrift Seite 13 gesagt: „an die Stelle eines bloßen Privatrechts tritt somit ein Recht des Gemeinwesens; aber eines Gemeinwesens, das nicht die Privatfreiheit verschlingt, sondern zur unendlichen Vollfreiheit, zur Ehre der höchsten Selbstständigkeit verklärt, indem es sie wiedergebiert aus der vollkommenen Hingebung und Treue. Das allgemeine Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre mögen wir demnach als eine passende Bezeichnung der christlichen Rechtsidee betrachten.“
§ 17 Hätte die christliche Religion den Menschen, wie sie es wollte, in einem Leben himmlischer, reiner Liebe zurückgehalten, hätte sie ihn mit dem reinen Hinblick nach oben gesättigt und allen ihren Bekennern den „Panzer der Verachtung gegen irdischen Tand“ angezogen, wäre sie die unpartheiische Lenkerin der menschlichen Schicksale geworden, wäre sie für die Menschen die einfache sittliche Erziehungslehre geblieben – ein Vorzug, den sie immer gegen das Judenthum und die andern Hauptreligionen einnimmt, so würde es gegenwärtig nicht einmal nöthig sein, der verwahrloften großen Masse gegen Stände und Privilegien Schutzdämme zu bauen, es gäbe schon an und für sich keine Stände und Privilegien. Oder wenn ein christlicher Staat dennoch privilegirte Stände zu seiner Existenz brauchte, so dürften die Privilegirten doch nur einen christlichen, d. h. „brüderlichen“ Gebrauch von den Theorien ihrer Staatsreligion machen. Befindet sich doch die große blinde Masse schon hinlänglich in dem Zustande christlicher Duldung. Sie arbeitet für die Privilegirten, ja, sie muß auch noch alle Verantwortlichkeit für die Sünden, die Andere auf ihre Rechnung begehen, tragen. Will Herr Brüggemann den Beruf Preußens durch factische Beweise zu einem neuen vernunftgemäßen Leben des Staates und Volkes darlegen, so hätte er der Religion eine andere Stellung im neuen Staatssystem anweisen sollen. Er sagt zwar, "das allgemeine Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre wäre die passende Bezeichnung der christlichen Rechtsidee." -
§ 18 Was hilft uns aber die christliche Rechts-Idee, wenn von ihr für die Gesellschaft ein schlechter Gebrauch gemacht wird? Deshalb, daß sie Herr Brüggemann beibehalten will, wird sie den Materialismus nicht idealisiren; sie wird für das materielle Prinzip nach wie vor durch ihren Gebrauch der Stüßpunkt der Unverleßlichkeit bleiben. So lange die berufsreichen Herrn in jedem Nadelstich eine Sünde sehen und für diese eine Strafe bereit haben, so lange können die Privilegirten, welche diese christliche Rechtsidee schon aus einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachten wie der verantwortliche Pöbel, sicher sein. Unsere Bemühungen würden vergebens sein, wenn wir auf diesem Fundamente der Menschheit eine menschliche Stellung verschaffen wollten. Dieses Geschäft überlaßt ganz ruhig der Kirche, es ist ihr Amt, die Menschen selig zu machen.
§ 19 Die Grundidee zu Preußens Beruf in der deutschen Staats-Entwickelung legte Friedrich der Große durch seine Kriege gegen das in Philisterhaftigkeit und Altersschwäche entnervte deutsche Reich. Die Vergrößerung Preußens zu einer ansehnlichen Staatsmacht übertrug dem jungen Königreich in den politischen Verhältnissen schon eine Rolle, so konnte z. B. keine fremde Staatsmacht Raubkriege, wie sie zu Ludwig XIV. Zeit in Deutschland Mode waren, mit Umgehung Preußens anfangen. Allein die passive Stelle war für Preußen, welches nach der Eroberung Schlesiens auf seine Sicherheit bedacht sein mußte, nicht mehr genug, sondern es mußte, nachdem es sich einmal fürchterlich gemacht hatte, sich gleichsam an die Spitze der europäischen Staatengesellschaft stellen, was durch Friedrich den Großen auch geschah, und was damals von Oestreich mit heimlichem Ingrimm beobachtet wurde. Friedrich II. machte schon den Versuch, die Nation zu politisiren, weil er sehr wohl einsah, daß in einer politischen Volksmeinung der treueste Alliirte für die Behauptung der preußischen Staats-Existenz zu finden sei. Ein Volk ohne Gesinnung, ohne Bewußtsein, war für diesen Fall ein Unglück, das sich nicht übersehen ließ. Der König fing aber seine Aufklärungs-Versuche von der unrechten Seite an und brachte es mit denselben nicht weiter als bis zu dem Eindruck, den seine Erscheinung und seine für die deutsch-religiösen Gemüther etwas frivole Denkweise auf diese gemacht hatte. Die Nation, von aller Theilnahme an der Verwaltung ausgeschlossen, wurde von den Franzosen 1806 überrascht und mußte sieben Jahre lang für ihre eigene Theilnahmlosigkeit seit Friedrichs II. Tode büßen.
§ 20 Herr Brüggemann, der eine kurze Uebersicht über die frühern Vorgänge in Preußen bis zur Geseßgebungsperiode von 1807 liefert, sagt, daß Preußen nach der Action von Jena und den berüchtigten Festungsgeschichten „den ganzen Unwerth und die Unzuverlässigkeit alles blos äußerlichen Meilen- und Seelenbesißes gründlich erkannt habe.“ Dieser Ansicht ist jedoch zu widersprechen, einzelne Männer, wie Stein, Niebuhr und Vinke mögen solchen Unwerth wohl erkannt haben, wogegen der Adel, die Geistlichkeit und die gesammte Büreaukratie diese Meinung nicht sogleich theilten.
§ 21 Herr Brüggemann scheint der Politik und den gefeßgebenden Theorieen dieser drei Männer ein besonderes Studium gewidmet zu haben. In dieser Beziehung kommt in seiner Schrift Seite 27 folgende bezeichnende Stelle vor. Wir werden diese Stelle anführen, um der Idee auf die Spur zu gelangen, welche sich Herr Brüggemann im Jahre 1843 nach dem Edict vom 4. Februar machen konnte.
§ 22 „Das Gericht über den bureaukratischen Staat, das in den Tagen von Jena ergangen war, und außerdem der Widerwille gegen die ähnliche Weise des Napoleonischen Staates trieb ächte deutsche Männer, die überall Treue und Ehre höher schäßten als gemeinen Nußen, auf die Spur der in England erhaltenen echt germanischen Staatsweise. Männer wie Stein, Vinke, Niebuhr, hoben den englischen Grundsaß der Selbstverwaltung des Volkes in Staat und Gemeinde hervor, gegenüber der büreaukratischen Verwaltung durch schreibende Regierungsgewalten, die alles wissen, alles leiten und regeln wollen. Mit Begeistrung sprach man vom freien England, das unter allen Wechseln und Erschütterungen sich selbst richtete, und von dem noch unschäßbareren Gut, sich selbst durch die Verständigsten aus ihrer Mitte richten zu lassen. Diese Brittische Freiheit wollte man nach Preußen übertragen.“
§ 23 Man denke nun aber daran, wie die Wahlen der Volksmänner in England betrieben werden, und man wird sich jederzeit eine richtige Vorstellung machen können, ob gerade diese Deputirten, die ihre Stimmen meistentheils auf eine stupide Weise von den Staatsbürgern von Haus zu Haus für baare Bezahlung abbetteln, stets die Einsichtsvollsten sein können. Indessen, wenn Herr Brüggemann im Jahr 1843 dachte, daß in Preußen bei allen Kennzeichen des Berufs, die Staatstheorie eine vollständige Anwendung von dem Steinischen Testamente machen werde, dann ist ihm auf Kosten seines Glaubens eine Niederlage bereitet, welcher jeder Redliche entgehen wird, sobald er mit der großen Bescheidenheit unserer Socialisten einige Bekanntschaft gemacht hat.
§ 24 Vielleicht hat Herr Brüggemann an natürliche Wunder gedacht, an denen jene Periode, aus der auch das Steinsche Testament hervorging, so reich ist. An Deutschland darf man aber in gewöhnlichen Zeiten seine Forderungen nicht zu hoch stellen, hier muß man sich immer in dem Geleise des langsamen gemessenen Fortschrittes bewegen; übernatürliche Wunder, wie zu Abrahams Zeit, geschehen seit Friedrich dem Großen, wo Philadelphia sein Wesen getrieben haben soll, nicht mehr: es regnet kein Manna vom Himmel, sondern der Bäcker muß regelmäßig seine Tagesgeschäfte verrichten, wenn unsere berufsreiche Gesellschaft sich sättigen soll.
§ 25 Weil wir aber von Wundern reden, so brachte Napoleon, der auf seinen Fahrten, hin und zurück von Egypten den englischen Korsaren wie durch ein Wunder entrann, um dem alten Europa mit einigen Wahrheiten beschwerlich zu fallen - durch seine strenge Thron-Revision in Deutschland ein neues Weltwunder mit zum Vorschein, in dem er den alten Deutschen Widerwillen gegen politische Selbstständigkeit doch wenigstens zehn Jahre lang zu verdrängen wußte.
§ 26 Die fruchtbare Empfänglichkeit der frischerregten Nationalität wollte 1807 ein großer Staatsmann benußen, um Friedrichs des Großen Ideen in etwas größerer Ausdehnung zu realisiren. Dieser Mann war der Minister v. Stein.
§ 27 Indem wir sein Reformwerk näher betrachten, wollen wir vorerst die Elemente bezeichnen, welche die neue Gesetzgebungs-Idee zu beherrschen hatte.
§ 28 Erstens: einen herrschsüchtigen, in alten Anmaßungen befangenen Adel, der selbst nach der Lection von Jena die Beibehaltung seiner Oberlehns-Herrschaft für Deutschlands Wiedergeburt nothwendig hielt. Zweitens eine gemischte, aus allen Confessionen zusammengesetzte Geistlichkeit mit einigen tausend Morgen Land, Abteien, Meiereien, und einer Verantwortlichkeits-Lehre, an welcher jede Regung des Menschengedankens zum Abbild von Lot's Weib wird. Drittens: eine ängstliche, pedantische Beamten-Corporation, die nie mehr that, als wie ihr geheißen war. Viertens: ein maulfaules, mit einigem Mutterwiß begabtes Bürgerthum, welches ohne alle Industrie und politischen Ehrgeiz seine Zunftprivilegien zur ersten Bedingung der Menschwerdung hielt. Fünftens: einen erbhörigen Bauernstand, der im ganzen Umfange der Monarchie keine zehn Morgen Land als reelles Eigenthum besaß, weil der ganze Flächenraum seit den Zeiten des dreißigjährigen Krieges in Dominial-Gefälle eingetheilt war: und sechstens eine Nation, die nie darnach gefragt hatte, ob Kant seine Ideen über Menschwerdung aus der Luft gegriffen, oder ob die Theorie um der bloßen Theorie willen streite: - eine Nation, der alle diese Spitzfindigkeiten nicht die mindeste Sorge machten, sobald sich die Reform nur nicht um ein Corporations-Verhältniß bekümmerte: ein gesinnungsreiches Volk.....
§ 29 Aus diesem Reichskataster wollte der Minister Stein ein englisches Selfgouvernement gestalten, welches, wie Herr Brüggemann mit Begeistrung über die englischen Zustände sich äußert, „einen so allgemein praktischen Verstand und vornehmlich ein so lebendiges Interesse zu erregen weiß an allem, was das Vaterland, den Nutzen und den Ruhm der Nation betrifft.“
§ 30 Dieses Testament enthält mit Herrn Brüggemanns Commentarien folgende Hauptstellen:
§ 31 1) Die Einheit der bürgerlichen Gesellschaft mit der Polizei im ganzen Staate. Die Regierung kann nur von der höchsten Gewalt ausgehen. Sobald das Recht, die Handlungen eines Mitunterthans zu bestimmen und zu leiten, mit einem Grundstück erkauft oder ererbt werden kann, verliert die höchste Gewalt ihre Würde und in dem gekränkten Unterthan wird die Anhänglichkeit an den Staat geschwächt.
§ 32 2) Gleichheit vor dem Geseß und unpartheiisches Gericht. - Es soll der Richter von der höchsten Gewalt abhängen. Denn wenn umgekehrt der Richter von dem Gegner abhinge, so wäre der Glaube an das Recht schon erschüttert, es würde die Meinung von der Würde des Richters, von seiner unverleßbaren Heiligkeit verletzt.
§ 33 3) Vollkommene persönliche Unabhängigkeit jedes mündigen Bürgers, namentlich Abwehr jeder unfreien Bande, in welchen das Gesinde zu den Herrschaften steht. Alle Erbunterthänigkeit soll aufhören.
§ 34 Nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Schlesien im Jahr 1807 hat man von Seiten des Adels Versuche gemacht, diese Erbhörigkeit in einigen Punkten wieder herzustellen. Dagegen protestirt der Minister weiter, wie folgt:
§ 35 Es kann niemals die Rede davon sein, diesen Einzelnen auf Kosten der Persönlichkeit zahlreicher Mitunterthanen Gewinn zuzuwenden. Es bedarf keiner neuen Gesindeordnung, sondern nur der Aufhebung der vorhandenen. Das Gesindeverhältniß enthält freilich über den Dienst und den Lehn-Vertrag hinaus noch kein sittliches Element der Gesinnung. Aber Gesinnung wird nur durch Gesinnung erweckt: - sie erzwingen wollen, ist eben so unmöglich wie unsittlich. Die erste Bedingung der wahren Sittlichkeit ist die rechtliche Unabhängigkeit. Diese zu erziehen:
§ 36 Dazu gehört der öffentliche Staat und das allgemeinere Staatsbürgerthum. - Unter diesem wird verstanden: - eine allgemeine Nationalrepräsentation, die jedoch nicht den schlechten Sinn einer Beschränkung der königlichen Gewalt haben soll. Das Gute, was in ihr liegt, ist, der höchsten Gewalt ein Mittel zu geben, wodurch sie die Wünsche des Volkes kennen lernen und ihren Bestimmungen Leben geben kann. Von der Ausführung eines solchen Planes hängt Wohl und Wehe unseres Staates ab: denn auf diesem Wege allein kann der Nationalgeist positiv erweckt werden. Dazu ist jedoch nöthig: ein Ineinandergreifen der Stände: und besonders zu dem Ende eine Reform des sich bei uns kastenmäßig abschließenden Adels. Zwischen unseren beiden Hauptständen, dem Adel und dem Bürgerstande, herrscht durchaus keine Verbindung. So leidet der Gemeingeist und das Vertrauen der Regierung. Der Adel muß alles privatrechtliche Privilegium aufgeben und seine Ablösung beschleunigen helfen: - er muß sich mit den übrigen Ständen in ein Ganzes verketten.
§ 37 Nach dieser politischen Staats- und Volksbildungs-Combination des Herrn Ministers von Stein wird von unserm Verfasser auf den Schlußstein dieses in der That gesinnungsreichen Kunstgebäudes hingewiesen, indem er über das wahre noch fehlende Element also sagt: „aber im Staate geht der Mensch der christlichen Zeit nicht auf: und deshalb wird gefordert als Krone und Wurzel aller Freiheit: die religiöse und sittliche Freiheit der durch die unendliche Treue des Glaubens und der Liebe zur eben so unendlichen Ehre erhobenen vollfreien Persönlichkeit.“
§ 38 Ich muß gestehen, ich bin sehr zufrieden mit der Copie dieser Phrase fertig zu sein, sie benimmt dem stabilen Deutschen beinahe die Luft zum ferneren Fortschritt..... Der Minister Stein äußert sich über diesen Punkt also:
§ 39 Durch Belebung des religiösen Sinnes werden alle diese Einrichtungen ihren Zweck erreichen. Doch können Vorschriften und Anordnungen diesen Zweck nicht erreichen. Es liegt der Regierung ob, mit Ernst diese wichtige Angelegenheit zu beherzigen: doch wird der Staat positiv hier nicht viel ausrichten können. Wer die Religion in andern beleben will, muß selbst erst von Religion belebt sein: und diese ist in ihrem innersten Wesen Glauben an den Geist und unbedingte Ehrfurcht vor seiner Freiheit. Zwang richtet hier nichts aus, und ist noch unsittlicher, als für die Pietät des Gesindeverhältnisses.
§ 40 Dies der Hauptinhalt von Steins politischem Testamente, welches der große Staatsmann noch vor seinem Austritt aus dem activen Dienst der Regierung und allen ihren Abhandlungen einhändigte.
§ 41 Das Testament blieb seinen Hauptsätzen nach einstweilen unausgeführt liegen. Das Volk, welches bis auf den heutigen Tag noch keine specielle Kunde über jenes Erzeugniß erhielt, wodurch es gebildet werden sollte: eben dieses Volk besaß damals für eine solch ausgedehnte Freiheit noch keine Dimensionen.
§ 42 Herr Brüggemann hat Deutschland so eben in einem lichtvollen Augenblick gesehen; es befremdet uns daher nicht, wenn er die Restaurationszeit sehr strenge behandelt. Der Grundsatz: „Gesinnung sei nur durch Gesinnung zu erwecken,“ ward troß aller Freiheitsreife der Völker nur von einer Seite beherzigt.
§ 43 Herr Brüggemann findet die Staatsglieder, die nach solchen Erlebnissen, wie Preußen seit 1806-1815 erfahren hatte, wie eine eherne Kette aneinander geschmiedet werden mußten zur ewigen Dauer, in völlig lockerem Verbande. Was außer dem Krieg mit Napoleon gewesen war, davon wußte kein Mensch etwas mehr, selbst Herr von Stein mit seinem Testamente, Vinke, Niebuhr und wie alle die Nestoren der deutschen Volksfreiheit geheißen haben waren vergessen, und wie allerdings von keiner Seite geläugnet werden kann: mit Absicht vergessen. Wenn Gott das deutsche Volk heimsuchen will, dann muß er es mit altpreußischem Liberalismus oder mit sächsischen Ständeversammlungen strafen. Uns hat er die Büreaukratie und den servilen Egoismus unserer Eisenbahn-Actionaire gegeben. Auch unser Bürgerstand, sagt Herr Brüggemann, besaß keine Routine, sondern er bestand aus den beschränktesten Zöglingen der Staatskünstelei, denn sobald die Idee des öffentlichen Staates in Anwendung gebracht werden sollte, lief dieser in babylonischer Verwirrung auseinander.“ Ja! ja! das ist wahr: die moderne Bourgeoisie besteht aus erschrecklichen Helden, alle Vernunftschlüsse, die über das Gebiet der alten Fama hinausreichen, hält sie für das Werk des Antichrists; tritt einer, der an den Theorieen der Staatengeschichte genug hat, über dieses Gebiet hinaus, will er auf der Erde Menschen anstatt Heuchler schaffen, so hält die berufsreiche Societät den neuen Praktikus für den Scheiterhaufen reif.
§ 44 Herr Brüggemann scheint überzeugt zu sein, daß das hochstudirte Gemeinde-Wesen der Restaurationszeit aus der Dummheit der Parteien, wovon keine den Begriff einer vernünftigen Volksfreiheit fassen konnte, hervorgegangen sei. Nachdem die Bürger ihre civilisirte Anschauungsweise zu erkennen gegeben, nachdem die Büreaucratie ihre bequeme regelrechte Stellung wieder eingenommen, sagt Herr Brüggemann, „bildeten sich Gruppen durch die Kraft des Interesses zu praktischen Parteien, die auch Gestaltungen zu Stande brachten: nur natürlich lauter Mißbildungen, ohne alle Lebensfähigkeit und jede feindlich gegen die andere. Zur natürlichen Strafe erreichte dafür auch nothwendig jede blos das Gegentheil ihrer Absicht.“ Weil im Anfang dieser eben bezeichneten Glanzperiode der praktische Verstand der großen Masse noch keine sonderliche Ausbildung erlangt haben konnte, so scheint es, als ob unser Verfasser die Staatsbürgerschaft am Ende dieser Periode für den Empfang der vernünftigen Freiheit für zurechnungsfähig hält, indem er am Schluß seiner publicistischen Abhandlung mit ziemlicher Sicherheit parlamentirt, es fehle blos noch am Vertrauen, aber freilich einem wahrhaften Vertrauen, einem wider alles Mißtrauen und Einseitigkeit unerschütterlichen Vertrauen: bei den Leitern des Staats am Verstande, aber freilich dem staatserhebenden männischen, sich über die Routine und die kleingeistige Furcht, an der Geschichte gebildeten und mit lebendiger Anschauung fremden öffentlichen Staatswesens genährten Verstand. Es käme ferner nur darauf an, daß die Leiter des Staats von 1843 wieder einsehen, was 1807 die Staatsmänner in Preußen einsahen; was Herr von Vinke damals ausgesprochen: „Nur Publicität und freie Ungebundenheit des öffentlichen Urtheils über öffentliche Personen und Gegenstände gleich im Beginnen, und wir werden bald aus der schönen Blüthe des Gemeingeistes die goldene Frucht der öffentlichen Meinung sich bilden sehen.“
§ 45 Natürlich bleibt es jedem Natur- und Geschichtsforscher überlassen, nach seiner jedesmaligen Einsicht ein Resultat seiner Untersuchungen zu entdecken, damit die Wissenschaft, und wenn es die politische Wissenschaft sein sollte, welche in Deutschland für die Erziehung einer allgemeinen Nationalwohlfahrt noch nicht ihr Schülerexamen bestanden — mehr und mehr bereichert werde. Wenn aber die „Bildung eines heiligen Gemeinwesens im treuen Wechseldienst der Stände“ in irgend einer Zeit möglich gewesen ist, so wollen wir es recht gern zugeben, nur glauben wir, war dies eine andere Zeit als die vom Jahr 1843, da hier sowohl, wie in den gepriesenen constitutionellen Staaten die Grundlage der Verfassung nicht auf der Gesinnung, sondern auf dem Eigenthum beruhet. Die Restaurationszeit schuf keine Stände, sondern eine Ständelosigkeit. Die Regierung ließ die alten Formen bestehen, sie glaubte genug zu thun, wenn sie dem Volke eine schulgeregelte Bildung angedeihen ließ, worin ihr die staatlich ordinirte Geistlichkeit die trefflichsten Dienste leistete. Die Regierung wollte ein religiös-sittliches Staatsbürgerthum erziehen, sie wußte aber nicht, daß man da, wo der materielle Mensch durch Beispiele, welche die Regierung nach einigen Friedensjahren durch die Erwerbung des materiellen Reichthums gegeben hat, geleitet wird, nicht für die wahre religiöse Sittlichkeit empfänglich sein kann. Für solche Triebe und Leidenschaften bildete sich die Masse schnell heran, das materielle Element war der einzige Hebel des Fortschrittes. Wenn wir daher in der preußischen Nation Intelligenz suchen, so liegt sie in den Kniffen und Ränken der Bereicherungskunst, nicht aber in der ideellen Vorstellung, daß einer für alle, und alle für einen leben und sorgen müssen.
§ 46 Die geringfügigen Instanzen, welche die Regierung in den Provinzialständen und Stadtverordneten dem Volke zur Combination eines großen Gemeinwesens bot, blieben an der Seite des Absolutismus, der sich neuerdings nicht durch den König, sondern durch die Büreaukratie kund gab, ein bloßes Schattenbild freier Volksinstitution, hieraus konnte eben so wenig wie durch die Kirche, die stets für ein doppeltes Interesse lehrte, das völkerliche Bewußtsein zum vernünftigen Denken und Handeln gestaltet werden.
§ 47 Wer etwa glaubt, daß zur Stiftung eines „heiligen Gemeinwesens im treuen Wechseldienst der Stände“ diese einseitige Bildung hinreiche, der möchte sich gegenwärtig, wenn im Jahr 1840 das Volksbewußtsein an seinen Platz gestellt worden wäre, vielleicht schon von dem Gegentheil überzeugt haben. Zu einem solchen Gemeinwesen gehört Charakter. Die Theorieen der Restaurationszeit wußten der Volksbildung keine Bestimmtheit zu verleihen. Obwohl die Regierung von den v. Hallerschen Adelsprincipien keine Anwendung machen wollte, so besaß die Beamtenmasse dennoch jedes Mittel, den Strom der Geistesrevolution ins alte Bette des Gehorsams und bewußtloser Abhängigkeit zu führen. Die Freiheit, welche der Staatsbürger in einem monarchisch freien Staate nach dem Muster von Steins Verfassungs-Urkunde empfangen kann, blieb in der Bruft des preußischen Völkerberufs unter der Controlle der Behörden todt liegen. Herr Brüggemann weiß die Mißgestaltungen der Restaurationszeit sehr gut zu bezeichnen; weil aber das Volk noch keine Gelegenheit fand, seine politischen Ansichten zu erweitern, so irrt er sich in so fern, als er glaubt, „es fehle blos noch an der Einrichtung, an der praktischen Ausführung der Steinschen Theorien, um eine selbstständige Volksmeinung herrlich emporsprießen zu sehen.“
§ 48 Eine selbstständige Volksmeinung und ein williges furchtloses Eingehen der Regierung und des Staatsoberhauptes in diese Meinung, das ist das Lied, welches die volksorganische Publicistik seit jener Schreckensperiode gesungen hat.
§ 49 Es ist aber nicht so leicht, von einem Besißthum zu scheiden, welches der festwurzelnde Glaube des ausschließlichen Rechtes von Alters her für sich in Anspruch nahm. Stellen wir daher unsere Forderungen nicht zu hoch, verlangen wir nicht, daß dieses Princip plößlich resigniren soll. Dieses Princip hat ein Vorrecht so gut wie die große Volksmasse, die ihr Gefühl der Verantwortlichkeit in guten und bösen Tagen mit sich herumschleppt. Allerdings zürnt die große Maffe oft über die neugezogenen Stände der Restaurationszeit, sie merkt es an sich selbst, daß es die Mißhelligkeiten der langen Friedensjahre zu keiner solchen Vollfreiheit, wie sie Herr Brüggemann nach dem Muster des englischen Selvgouvernements verlangt, gebracht haben; sie feiert täglich das auf den traurigen Restern früherer Macht und Größe ähnliche Gedanken, wie einstens Scipio auf den Trümmern von Carthago.
§ 50 Bei einer andern Gelegenheit habe ich schon gesagt: „wir können nicht verlangen, daß sich unsere Umstände durch das Wort eines einzigen Mannes verbessern sollen, und zwar zu unserm Vortheil verbessern, dazu ist mehr nöthig, als die Einbildung des Repräsentations-Berufs.“
§ 51 „Gleich im Beginn, sagt Herr Brüggemann, gleich im Beginn der neuen Regierung kam der Gegensaß der Ansichten über den Fortbau der Verfassung entschieden zur Sprache.“
§ 52 So weit wie dem König seine souveräne Stellung gegen die absoluten Monarchen Rußlands und Destreichs erlaubte, so weit wie es sein eigenes ererbtes Recht zuließ, als freier König zu herrschen, konnte jeder Preuße überzeugt sein, werde der neue Monarch Freiheiten gestatten. Allein daß die Politik der Restaurationszeit, die Politik „der Furcht, des Mißtrauens, der Hemmungen, des Vertagens und des Altflickens,“ wie Herr Brüggemann sie nennt, unmittelbar durch Erweckung neuer Institutionen hinweggeräumt werden konnte, das konnten nur diejenigen glauben, welche anstatt einer nationalen, eine heilige concessionirte Gesinnung an den Stufen des Thrones niederlegten.
§ 53 Herr Brüggemann meint in allem Ernst, „der Thronwechsel von 1840 wäre gerade nicht als ein historischer Wendepunkt zu bezeichnen, er sei aber doch der Wendepunkt in der Geschichte des neuen Preußens und zwar der Wendepunkt der Politik aus der Restaurationszeit. Sowohl in dem Fürsten wie im Volke habe sich die Ahnung einer solchen Wendung geregt und ausgesprochen.“ Der freisinnige heilige Politiker segelt auf der spiegelglatten Oberfläche des Zeitstromes fort, ohne vor seiner hoffenden Erwartung die innere Gährung eines nahenden Gewittersturmes zu gewahren; die bloße Ahnung, die im Staatsoberhaupt und dem Volke für die Gestaltung einer Idealwelt liegt, ist ihm genug; „die Weisheit der Restaurationszeit sei eine Thorheit gewesen, darum drohe ihren einheitslosen Werken überall der Einsturz. In dieser Ahnung liegt der Keim der Zukunft und die Macht derer, welche berufen sind, am Baue dieser, nemlich der Zukunft, voranzustehen.“
§ 54 Es ist nicht zu läugnen, die Schrift des Herrn Brüggemann bekämpft mit Beharrlichkeit die Mißbräuche, die in der vergangenen Zeit liegen, mit sammt denen, die in der neuen geblieben sind, weil hier nicht alles buchstäblich erfüllt werden konnte.
§ 55 Die Idee, daß Preußen ohne die Aufnahme des englischen Selvgouvernements nicht reich an Gottesfrieden und an Weltfrieden werden könne, ist die höchste Spitze, zu der sich der Verfasser erheben konnte. Eine öftere Wiederholung gesalbter hochtönender Reden: „das allgemeine Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre,“ oder: „das ordnende waltende Gesetz des göttlichen Friedens, der göttlichen Ordnung eines heiligen Gemeinwesens der im treuen Wechseldienst der Stände treu geeinten Christenheit rc.“ ist für uns etwas störend, dennoch nicht so belästigend, als dem preußischen Thronerben die ewige Mahnung an die in den Jahren von 1807 in Aussicht gestellte Verfassung sein muß. Mit dieser Mahnung ließen, die Königsberger nach dem Erbhuldigungsfeste nicht lange auf sich warten, dort befanden sich die treuen Anhänger der Steinschen Politik unter den höchsten Staatsbeamten. Es ist nach der Motion, welche die altpreußischen Regierungs-Chefs dem König für eine ausgedehntere Vollmacht der Stände stellten, wahrscheinlich, daß diese Herren an die Volksreife appellirten, ferner, daß sie auch glaubten, mit der Repräsentation würden sowohl die alten, wie die neu erstehenden Mißhelligkeiten aufgehoben werden.
§ 56 Nun, es mag sein, daß dies geschehen wäre; für unsern Ueberblick der Verhältnisse berechtigen uns die Zustände von England, Frankreich und den deutschen constitutionellen Staaten zu keiner solchen sichern Hoffnung. Doch müssen wir fast bedauern, daß Se. Majestät der König nicht auf die Erweiterung der Vollmacht im Sinne einer allgemeinen Volksvertretung sich einließ, damit unsere Ansicht nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch gerechtfertigt erschiene.
§ 57 Wenn Preußen so wie Frankreich aus einer geschlossenen Ländermaße bestände, dann würden die naturwüchsigen Formen der alten Zeit mit leichterer Mühe ein gefälliges menschliches Ansehen erhalten können; so aber muß es sich von den Sentimentalitäten des vollfreien Liberalismus entfernen und mit langsamem gemessenem Fortschritt die Verhältnisse, wie sie gerade kommen, zu beherrschen suchen.
§ 58 Der Staat, dessen Festigkeit in seiner Geschäftspraxis, in seinen wohlgeordneten Finanzen und in seiner Militärorganisation ruht, braucht sich vor einer voreiligen Demonstration nicht zu fürchten, wenn sonst die innern Zustände befriedigender Natur sind, was aber leider als eine Folge der schläfrigen Restaurationszeit nicht nachzuweisen ist. Was diese Zeit für die Bildung des Gemeinwohls versäumt, was sie ferner in ihrer Egoisten-Gestalt für sich in Besitz nahm, ohne zu bedenken, daß Alle gleiche Ansprüche zu leben haben, dafür kann die neue Regierung nicht verantwortlich sein. Wollte die neue Regierung so schnell, wie die Liberalen mündig werden, auf eine radicale Verbesserung der untern Volkszustände sich einlassen, dann möchte sie von dem, was die Restaurationszeit erschuf, bald für sich selbst nichts besitzen; und gesetzt, sie gebe gutwillig die Mittel ihrer eigenen Existenz hin, wer bürgt ihr für die dankbare Gesinnung von Geistern, die sich durch nichts weniger als durch ein festes Lebensprincip zu erkennen geben? Die Regierung konnte sich für die Idee des englischen Selvgouvernements nicht begeistern lassen, um so weniger, weil diese Regierungsform gegenwärtig den extremsten Abstand zwischen Arm und Reich präsentirt, weil sie nicht auf Gesinnung, sondern auf der bloßen Eitelkeit der Parlaments-Redner und auf dem Besitzthum der Fabrikanten und Kaufleute ruht.
§ 59 Man glaubt, eine solche Einrichtung sei geeignet, in Deutschland, in Preußen Gesinnung zu erwecken; wir wollen die Meinung nicht widerlegen, daß sie zur Zeit, wo noch Gesinnung zu finden war, dieselbe gestärkt hätte; nachdem jedoch das deutsche Ehrenwort aus der Mode gekommen ist, täuscht man sich vollkommen, wenn man glaubt, eine bloße Veränderung der Gesetze werden die Geister, welche sich zuerst für ihre Emancipation auf die gemeinste Seite legten, in eine idealische Form gießen können.
§ 60 Diese Unmöglichkeit hat die Regierung erkannt. Ihre Politik hat bewiesen, daß sie die Schwierigkeit einsah, alle die abstrakten Begriffe über Besitzthum und Freiheit mit einmal zu regeln; sie that, was sie den Umständen für angemessen hielt, sie gestattete unter Bedingung freie Rede. Bald bildete sich eine Opposition, die allerdings gegen die Hallerschen Rechtstheorieen, überhaupt gegen jedes Privilegium zu Felde zog, wo dann auch der Beamtenstand, der weltliche wie der geistliche nicht verschont blieb. Auf diesem letztern Spielraum mochten die meisten Mißbräuche zu finden sein; der Streit über Kirche und Staat wurde bald heftig, es wurde für und wider den historischen Christus gestritten; ob die Regierung besser gethan hätte, diesen Streit ruhig fortsetzen zu lassen, das wagen wir nicht zu behaupten, jedoch erklärt Herr Brüggemann, noch ehe derselbe auf die Spitze getrieben war, die Presse für unbequem; nachdem halb officielle Artikel erklärt haben sollen, die Presse entspreche nicht den in sie gesetzten Erwartungen, „sagt unser Verfasser; „will man nicht ganz unbillig sein, so darf man nicht den sehr natürlichen Einfluß deutscher Gewohnheit übersehen, und nicht dem deutschen Geschäftsmanne, der so lange nur ehrfurchtsvolles Schweigen gekannt hatte, eine Einsicht in die Natur und rechte Behandlung der Tagespresse zumuthen, wie solche der englische Staatsmann mit der Muttermilch eintrinkt.“
§ 61 So viel uns von den damaligen Probearbeiten der jungen deutschen Presse zu Gesichte gekommen ist, müssen wir gestehen, hat sich gerade nicht eine Schülerarbeit in denselben kund gegeben, überhaupt nicht in der rheinischen und leipziger Zeitung, welche wegen ihrer meisterhaften Rhetorik, nicht wegen ihrer schlechten Aufsätze gelesen worden sind. Manche hohltönige Rede eines englischen Staatsmannes, oder eines englisirten Deutschen möchte gegen die Sprachwissenschaft dieser Organe zu kurz kommen.
§ 62 Natürlich erging es der Opposition, deren Wahrheiten selten für Wahrheiten gehalten werden, wie immer: sie mußte schweigen. Anderes ungewaschenes Zeug ist seit dem Tode der leipziger und rheinischen Zeitung genug zum Vorschein gekommen. Dem Volke, dem auch Herr Brüggemann ohne Bedenken das Taufzeugniß seiner Mündigkeit ertheilt, wird aus den Berliner Tagesblättern keine Gesinnung für ein nationales Gemeinwesen erstehen. Uebrigens liegt in der Meinung unseres Verfassers, daß das Volk durch die lange Gewohnheit des ehrfurchtsvollen Schweigens, mit seinem beschränkten Unterthanenverstand der mit Gänsehäkchen verzeichnet ist, alles Selbstgefühl verloren hat, ein ziemlich greller Widerspruch gegen die übrigen Bestimmtheiten, die in der Schrift für die Berufsfähigkeit des Volkes ausgesprochen sind. Die Vertreter eines englischen Selvgouvernements dürfen keine beschränkten Ansichten mit ins Parlament bringen: sie müssen gleich bei ihrem Eintritt wissen, was sie zu thun haben, um eine königl. Vollfreiheit zu Tage zu fördern. Daß aber das Volk seine Kenntnisse noch nicht bis zu dieser Stufe der Intelligenz und Weisheit ausgedehnt hat, das ist auch unsere beschränkte Ansicht.
§ 63 Des Volkes Begeisterung wiegt uns in keine Illusion ein, seine politische Mündigkeit auszusprechen. Es besitzt einen äußerlichen Anstrich von Charakter, der aber schnell seine Farbe verändert, sobald es darauf ankommt, diesem Charakter Bestimmung zu geben. Der leidige Eigennutz löst alle Chimären des Nationalwillens schnell auf, denn sobald eine Forderung an sie ergeht, die sie nicht verstehen, tritt jeder einzelne auf die Seite der Selbstgenügsamkeit und sucht sich in gemessener Entfernung von dem Gesammtinteresse als guter Bürger zu beweisen. Die Leidenschaft viel zu erwerben, ferner die Leidenschaft, alle diejenigen, die nichts erworben hatten oder vor der Concurrenz-Masse nichts erwerben konnten, zu verachten, das war der Geist, der die ganze Restaurationszeit durchdrang, und der sich mit einer ziemlichen Quantität Indifferenz der neuen Zeit anschloß.
§ 64 Von politischer Bildung ist noch keine Rede. Der dunkle Begriff politischer Bedeutung, welcher in der landsmannschaftlichen preußischen Nationalität anzutreffen ist, ruht auf dem Gedächtniß einer großen Geschichte. Die Regierung fand es nach ihrer Ansicht nicht für nöthig, diesen Mangel durch besondere Aufklärung zu erläutern, sondern sie wendete ihre Fürsorge auf die Erziehung eines christlich sittlichen Staatsbürgerthums. Vermöge des staatlichen Schulunterrichtes, ferner vermöge der neuen merkantilischen Machinationen erlangte das Volk einen bedeutenden Anstrich von Intelligenz. Mehr aber nicht. Gedanken und consequenter Grundsätze war es bei dem Thronwechsel von 1840 nicht fähig. Die Antipathie verschwand und ging einem völlig exaltirten Zustand über. Der neue König wird das goldne Zeitalter über Preußen hereinführen, so dachte jeder in seiner Art, und jeder in seiner Art stellte bei diesem wunderbaren Uebergang noch seinen besondern Wunsch in Aussicht. Allein konnten sie nicht jubeln, man hätte sie nicht gehört: darum schloß sich jeder Einzelne, Ritter! Bürger! Landleute! mit seiner Hoffnung an die große Masse an und jauchzte dem neuen Fürsten, der königliche Worte sprach, einen massenhaften Beifall zu. Doch konnte nicht alles, was der Monarch gesprochen, in Erfüllung gehen, es brauchte auch nichts von dem, was er in der Strömung des Augenblickes gesprochen, erfüllt werden, denn er hat nichts versprochen; nichts von allem dem, worüber das Volk bald nach dem großen Acte in neue Betrübniß und Antipathie gerieth.
§ 65 Carl Reichardt.
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