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Das Geheimniß der Verwilderung inmitten den Civilisation Das Geheimniß der Rechtlichkeit im Staat Das Geheimniß der gebildeten Gesellschaft Das Geheimniß der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit Das Geheimniß ein Spott Lachtaube Der Weltzustand der Geheimnisse von Paris im Allgemeine Die epische Begebenheit der Geheimnisse von Paris Murph Rudolf - das enthüllte Geheimniß aller Geheimnisse Der Schurimann Der Schulmeister Ferrand Louise Morel Die Musterwirthschaft Die Marquise von Harville Marienblume Schluß

Eugen Sue: die Geheimnisse von Paris. Kritik von Szeliga.

Deutsch

Author: Szeliga  Year: 1844 

§1 Eugen Sue erklärt an einer Stelle seiner Geheimnisse von Paris „dieses Werk ohne Hehl selbst für ein schlechtes Buch in künstlerischer Hinsicht,“ fügt jedoch hinzu, daß er es in moralischer Hinsicht durchaus nicht für ein schlechtes Buch gelten lassen könne, „vielmehr schon stolz“ darauf sein würde, wenn es auch nur das eine Resultat gehabt hätte, daß einige arme Familien den Gedanken, die es anregt, einige Unterstüßung verdanken.
[Notes for §1 here]
§2 Die Pflicht der Kritik ist es, das Werk gegen diese Erklärung seines Verfassers in Schutz zu nehmen, ihn selbst aber zugleich wegen derselben anzugreifen. Nicht ihn allein, sondern das gegenwärtige allgemeine ästhetische Bewußtsein, dem zu lieb sich Eugen Sue wohl zu jenem ungerechten Urtheil hat verleiten lassen.
[Notes for §2 here]
§3 Die Stürmer und Dränger des vorigen Jahrhunderts befreiten die Kunst aus den Fesseln der Moral. Das Schöne riß sich vom Guten los, stellte sich auf seine eigenen Füße und schreitet seitdem auf seinem eigenen Gebiet. Die Kunst ist frei.
[Notes for §3 here]
§4 Die Freiheit begann im vorigen Jahrhundert das Dogma der Zeit zu werden und ist es auf allen Hauptgebieten bis heut geblieben. Nun hat sie sich immer consequenter und so in's Detail eingeführt, daß sie nunmehr überschlägt und in sich selbst zusammenstürzt.
[Notes for §4 here]
§5 In der Politik, was hat die Freiheit ausgerichtet? Die Bourbonen haben ihr weichen müssen, als sie sich zur Gottheit auch der Aermsten und Elendesten machte, in ihnen grade lebendig wurde, sich also mit dem peuple identificirte. Die Freiheit die Volkssouveränität hat Ludwig Philipp auf den Thron erhoben. Und jest ist der peuple der Sklave der bourgeoisie.
[Notes for §5 here]
§6 Wie steht es mit der Freiheit der Wissenschaft? Sie macht dieselbe zu einer Religion, zur „Religion der Freiheit“ und vergißt dabei, was sie so oft ausgeführt, daß ich mich in der Religion zu meiner Gottheit demüthig, gebunden, unfrei verhalte. Die Freiheit der Wissenschaft macht die Wissenschaft zur Magd der Freiheit.
[Notes for §6 here]
§7 Die Kunst ist frei. Sie anerkennt nur ihre eigenen Geseze. Sie hat ihre Natur, ihre Religion, ihre Gerechtigkeit, ihre Wahrheit, ihre Liebe. Das ist auf Kaulbachs und Cornelius Bildern so gut zu sehen, als in Tieck oder auch in jedem neuren Roman und Drama zu lesen. Selbst Rafael und Shakspeare, die höchsten Muster der romantischen Kunst, bestätigen es. Der eine malt z. B. Engel, d. h. geflügelte Kinder, schafft sich also seine eigene Natur, frei von dieser schweren irdischen Natur. Wie in Shakspeares Dramen eine höhere Gerechtigkeit als diese unvollkommene irdische stets den Sieg davon trägt, kann ja nun vollends nicht genug hervorgehoben und gerühmt werden.
[Notes for §7 here]
§8 Wenn die Kunst aber so frei ist, warum befaßt sie sich denn überhaupt mit Natur, Gerechtigkeit oder in neuster Zeit sogar ausschließlich mit Liebe? Warum erfindet sie nicht ganz was Neues, absolut noch nie Dagewesenes? Der freien Kunst standen die rohen Nationen viel näher als wir, die wir die Phrase der Freiheit erfunden haben; man muß wenigstens studiren, ehe man zu ihren phantastischen Gebilden irgend ein ähnliches Dasein in der wirklichen Welt auffindet Heut zu Tage wird es nicht schwer, überall die Muster, Modelle und Urbilder zu erkennen. Dennoch ist die Kunst jezt frei, d. h. sie hat immer noch ihr ganz Besonderes, das sie hinzuthut. Die gezwungene, sie nennt es geheimnißvolle Verbindung giebt sie für Freiheit aus.
[Notes for §8 here]
§9 Man braucht die Geschichte nur darauf anzusehn, die Kunst ist niemale frei gewesen. Sie hat im klassischen Alterthum dem Staat, im Mittelalter der Kirche gedient; jest ist sie im Dienste der Phantasie: Freiheit. Daß sie in diesem Dienste Sklavin ist, wenn es die Kritik nicht selbst bemerkte — sie wird von denen, welche herrschen, aufmerksam genug gemacht. Ausgestoßen und in der Verbannung leben die Freiheitsdichter und Freiheitskünstler, und zwar ganz mit Recht.
[Notes for §9 here]
§10 Die Kunst ist also weder frei von Politik, Wissenschaft und Leben, noch umgekehrt und nochmals und abermals umgekehrt.
[Notes for §10 here]
§11 Politik, Wissenschaft und Kunst, jemehr sie auseinanderzugehn und jede ihr eigenes Terrain zu gewinnen meinen, um sich recht nach Lust und Gefallen darauf tummeln zu können, rennen mit ihren Freiheitsschweren Köpfen zusammen und gerathen in's Taumeln.
[Notes for §11 here]
§12 So taumelt denn auch unsre heutige Aesthetik und unser gegenwärtiger Kunstgeschmack.
[Notes for §12 here]
§13 Ihnen hat mit jener angeführten Erklärung Eugen Sue eine Huldigung dargebracht. Das aber darf die Kritik nicht ungerügt lassen, um so weniger als sie sich nicht gegen die Person des Verfassers, sondern gegen die ungeheure Zahl seiner Leser richtet, deren Urtheil über sein Werk er ihnen aus dem Herzen gestohlen hat.
[Notes for §13 here]
§14 So soll Eugen Sue sich wohl gar in den Dienst der Kritik geben? werdet ihr spötteln. Nein, in den Dienst der Kritik soll er sich nicht geben. Er ist selbst Kritiker, mag er's sagen oder nicht. Das ist eben der neue Fortschritt der Kunst durch die Geheimnisse von Paris, daß sie hinfort auf der Anschauung beruht, welche die Welt sieht, wie sie ist, sich von ihr nicht ein willkührliches Bild macht, sei es hell und licht von Wünschen und Hoffnungen gemalt, sei es trüb und schwarz, wenn Mißmuth und Befürchtungen den Pinsel führen.
[Notes for §14 here]
§15 Dies an den Geheimnissen von Paris näher zu beweisen, hab' ich mir zur Aufgabe gestellt.
[Notes for §15 here]
§16 Noch diese Bemerkung wird nicht überflüssig sein. Wie überhaupt das achtzehnte Jahrhundert unsere heutigen Zustände einleitet und vorbereitet, so hat auch Lessing schon damals thatsächlich — Nathan der Weise — gezeigt, daß der Kritiker, wenn er wolle, Dichter sein könne, daß also die Kritik die Kunst beherrscht.
[Notes for §16 here]
§17 Die Menschheit ist durch die Geschichte hindurchgegangen, hat die Geschichte gemacht und ist dafür von ihr gebildet und gefördert worden. Dennoch „beginnt die Geschichte der Menschheit, die Geschichte, welche den Gedanken der Menschheit erzeugt und die Stiftung der menschlichen Gesellschaft sich zur Aufgabe gesetzt hat, erst mit dem achtzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung“ und die Kritik muß das Geheimniß der Menschheit aus dem Schutt des Geschehenen recht an's Tageslicht hervorziehn.
[Notes for §17 here]
§18 Das Epos, wenn es nicht mehr bloß die freie Schöpfung des Romantikers sein soll, wie unsere jämmerlichen Romane, erkennt in der Geschichte sein Vorbild. Es stellt sich die Aufgabe, das Geheimniß der menschlichen Gesellschaft, also die Gegenwart vor der Gegenwart zu enthüllen. Das Epos stellt daher nicht bloß eine durch den Zusammenstoß einseitiger Charaktere beschränkte Begebenheit dar, in der sich etwa die Menschheit ganz besonders durchsichtig offenbarte: sondern legt den ganzen Weltzustand, in welchem die Gegenwart befangen ist, an welchem Alle und Jeder mehr oder weniger betheiligt sind; die Labyrinthe, in welchen wir umherirren, aus welchen zu entkommen wir den leitenden Faden suchen; das weite offene Gebiet der Objectivität, welche uns umgiebt und die nur durch ihre Reichhaltigkeit, nicht durch ein absichtliches Versteckenspielen sich unsrer Einsicht entzieht, zum Grunde. Das Epos läßt die Gegenwart mit sich selbst in's Gericht gehen. Das Epos schafft dem Gedanken, daß die Gegenwart an sich nichts sei, auch nicht bloß die ewige Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern der immer wieder zusammenzufügende Riß ist, der die Unsterblichkeit von der Vergänglichkeit trennt, seinen lebendigen Körper.
[Notes for §18 here]
§19 Dies ist die Bedeutung der Geheimnisse von Paris. Sie sind die Geheimnisse von Europa. Die Richtigkeit oder Unhaltbarkeit dieser Behauptung wird sich aus der näheren Betrachtung der einzelnen Geheimnisse von Paris ergeben müssen.
[Notes for §19 here]

Das Geheimniß der Verwilderung inmitten den Civilisation

§20 „Eine Penne bedeutet in der Sprache der Gauner und Mörder ein Wirthshaus der gemeinsten Art.“
[Notes for §20 here]
§21 „Der Wirth eines solchen Hauses ist meist ein ehemaliger Sträfling, der seine Strafe bestanden hat, oder es ist im Besitz eines Weibes, das im Zuchthause war, und die Gäste sind der Auswurf der Gesellschaft, freigelassne Galeerensträflinge, Gauner, Diebe und Mörder.“
[Notes for §21 here]
§22 Dieß ist der erste Schauplaß der Geheimnisse von Paris.
[Notes for §22 here]
§23 Später werden in zwei großen Episoden die furchtbaren Gefängnisse St. Lazarus und la Force geschildert.
[Notes for §23 here]
§24 Die Insel des Aussuchers ist darauf abermals eine Höhle des Verbrechens, in welche der Leser sich nur mit Haarsträuben eingeführt sehen kann.
[Notes for §24 here]
§25 Und noch andere Schlupfwinkel des niedrigsten Lasters zu betreten wird dem Leser nicht erspart.
[Notes for §25 here]
§26 Aber nicht diese Höhlen und Schlupfwinkel des Verbrechens und Lasters sind die Geheimnisse, von deren Dasein wir durch Eugen Sue unerwartete Kenntniß bekommen. Verbrechen und Laster sind so schüchtern und zaghaft nicht, daß sie sich bloß verkröchen und uns überließen, sie aufzusuchen, um hinter das Geheimniß ihrer verborgenen Existenz zu kommen; kühn und trotzig treiben sie ihre Frechheit so weit, daß sie nicht etwa bloß an die Orte des lebendigsten Verkehrs sich wagen, sondern sie sind da grade zu Hause; ja sie höhnen das ihnen feindliche Recht in dem Grade, daß Spitzbuben und Mörder ihre schauerlichen Erholungsstunden, wo sie von der verbrecherischen That ausruhen, aber den Ruhm derselben bei Gesindel schlürfen und Harlekin genießen, ganz in der Nähe des Justizpalastes und der Gerichtsstätten feiern! also nicht die Höhlen des Verbrechens sind die Geheimnisse, sondern die Verbrechen und Verbrecher selbst.
[Notes for §26 here]
§27 Mit mehr Schauer noch als Abscheu kehren wir uns ab von der unergründlichen Bosheitswollust einer Eule; von dem unerklärlichen Wahnsinn eines Schurimanns, dem das Morden ein Entzücken ist; von der Versunkenheit eines Schulmeisters in den bodenlosen Sumpf des Bösen; von dem unbeugsamen Trotz der Martials gegen Gott und Menschen, Weltordnung und Gesetze; von dem kleinen Lahmen, diesem kleinen Teufel, der eine ganze Hölle zu werden verspricht; von dem Roth-Arm und dem Skelett, von der Wirthin zum weißen Kaninchen und von allen Denen, welche als mit uns, die wir uns für Ebenbilder Gottes halten, gleichen Wesens anzuerkennen, unser Gefühl sich kränkt. Wir fragen erstaunt: wie sind diese fremden, gefühllosen, grausamen, boshaften, unbegreiflichen Wesen in dieser guten, wohlgeordneten, civilisirten, christlichen Welt möglich? Wir glauben an die Menschheit dieser entmenschten Menschen nicht. Aber wir verzweifeln auch an der Lösung des Räthsels, das diese Hölle auf Erden uns aufgiebt. Wir verstummen vor einem unerforschlichen Geheimniß, dem wir gut thun, aus dem Wege zu gehen, wenn uns unsere Börsen und unser Leben lieb sind.
[Notes for §27 here]
§28 In der That, die Wissenschaft und das Leben, die Religion und der Staat schlagen sich mit dieser Frage herum: wie sind diese Wilden in der Civilisation möglich? Oder vielmehr, sie schieben sämmtlich diese Frage bei Seite, lassen die Thatsache dieser furchtbaren Existenzen auf sich beruhen und erklären ihnen entweder offen den Krieg oder verhalten sich zu ihnen in der drohenden Ruhe des bewaffneten Friedens. Die Religion der Liebe ercommunizirt sie, der Staat schützt sich vor ihnen durch strenge Geseze und grausame Gefängnisse, und Wissenschaft, Kunst und Leben wollen nichts als jedes ungestört seine eigene Freiheit genießen.
[Notes for §28 here]
§29 Die Religion hat zwar ihre Theorieen von der Sünde, aber diese können nur historischen Werth für sie haben, insofern Christus eine sündige, verderbte Welt zur Erlösung vorfand; oder es kann ihr mit ihnen nicht Ernst sein, denn Christus hat ja die Sünde aus der Welt genommen, also die Sünde überhaupt getilgt. Zwar kühn ist es, aber doch die unumstößliche Wahrheit des Christenthums, was der Missionsprediger*), „des Menschen Sohn, den Sohn des Allerhöchsten und doch unsern Bruder,“ welcher ihm zur Rechten Gottes“, „die Schlüssel des Abgrunds hoch in der Hand“ erscheint, der Welt zurufen lässet: „Alle Schuld ist getilgt, und Gott fordert nun nicht mehr, daß ihr, um seelig zu werden, seine Gebote erfüllt, sondern nur, daß ihr mein Verdienst ergreift!“
[Notes for §29 here]
§30 Und dennoch existiren das Verbrechen und die Verbrecher – unerklärliches, erschütterndes Geheimniß! Du kannst die sündige That mit der Unmöglichkeit der Sünde nicht in Einklang bringen, oder nicht begreifen, daß du doch, und gar nicht bloß materiell berührt wirst von dem, was ganz außerhalb und ohne den mindesten Zusammenhang mit dir steht.
[Notes for §30 here]
§31 Oder, wenn du dieses Geheimniß zu durchschauen, zu fassen im Stande wärst, so müßtest du es ja als dein Geheimniß erkennen und begreifen. Sollten dir dann nicht diese Entmenschten wiederum Menschen werden? würdest du den Grund dieser furchtbaren Unnatur nicht in deiner eigenen Erhabenheit über die Natur, die Ursache dieser Verwilderung nicht in deiner Uebercultur finden müssen? Könntest du dann noch länger auf die Galeeren schicken, Todesurtheile vollziehen lassen, kurz Strafen verhängen, die nur Strafen sind? Würdest du nicht vielmehr zuerst an die allgemeinste Besserung denken, nicht des Verbrechers allein, sondern vornämlich des gesellschaftlichen Zustandes, welcher, da die Erbschaft von Geschlecht zu Geschlecht übergegangen ist, und jedes Geschlecht sein überkommenes Erbtheil zu vermehren sich hat angelegen sein lassen, die giftgeschwollene Ursache der furchtbarsten Verwilderung ist?
[Notes for §31 here]
§32 Dieß müßtest, solltest, könntest, würdest du, wenn diese Verwilderung Dir nicht Geheimniß wäre. Aber das Geheimniß ist dir eben Geheimniß und du mußt, sollst, kannst, willst Nichts von dem Allen.
[Notes for §32 here]
§33 Das Geheimniß aber ist eine ungeheure Macht, zu der du dich nur leidend verhalten kannst — das schützende und strafende Gesetz ist nur die Consequenz der Passivität der Gesellschaft, der drohenden, rohen Gewalt derjenigen gegenüber, für die es nichts Heiliges giebt. Das Gesetz, das irdische wie himmlische, trifft den einzelnen Verbrecher, die einzelne Missethat, indessen schon wieder neue Verbrechen geschehen, neue Missethäter frech ihr Haupt erheben. Der Schooß, aus dem sie hervorgehn, ist Geheimniß, und die verborgene Quelle kann nicht verstopft werden.
[Notes for §33 here]
§34 Das Resultat der jährlichen Feldzüge der Civilisation gegen die Verwilderung ist daher auch aus nichts Anderem, als aus den betreffenden tabellarischen Zusammenstellungen zu entnehmen, und danach stellt sich's keineswegs günstig und erfreulich heraus, ja von Jahr zu Jahr unerfreulicher und ungünstiger, und in demselben Maaße unbegreifliche Erscheinung! — als die Cultur zunimmt.
[Notes for §34 here]
§35 Diese furchtbare Verwilderung ist eins der großen Geheimnisse, welche Europa durchschauern, ist eins der Geheimnisse unsres Epos, der Geheimnisse von Paris. Die Staaten erschöpfen sich vergebens in Mitteln, die Zahl der Verbrechen zu vermindern — vergebens, weil, was die Grundlage aller Civilisation ist, die Religion da keine Liebe hat und haben darf, wo ihr der Glaube nicht entgegenkommt. Zwar heißt die Kirche ihren Diener den Mörder auf dem Wege zum Schaffot begleiten; aber sie kann damit nur den Schein der absoluten Macht über die Herzen bewahren wollen, im Ernst verzweifelt sie an der Verstocktheit des Bösewichts. Die Vollziehung der Hinrichtung hier, sowie das Schreckbild der ewigen Strafen im Jenseits — die furchtbar großartige Gott und Menschenverachtung der Mutter Martial — macht die eine zu einem schwachen Klappen des Beils, das andere zur verhallenden Drohung des Priesters und für die Menge ist nicht die an dem Verbrecher vollzogene blutige Rache, welche zugleich als ein noch gelinder Anfang auf die furchtbaren Büßungen der Hölle hinweist, sondern die Ohnmacht dieser Rache und der roheste Unglaube die Wirkung, die sich denn auch unmittelbar nach dem Act der Gerechtigkeit in den ausschweifendsten Zügellosigkeiten und neuen Verbrechen äußert.
[Notes for §35 here]
§36 Es kann hier nicht darauf ankommen, diejenigen Charaktere und Scenen der Geheimnisse von Paris, welche uns ein Haarsträuben verursachen, einzeln die Revüe passiren zu lassen, vielmehr genügt, die Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben, daß es dem Verfasser nicht darum zu thun ist, uns in den Schlupfwinkeln der Verbrecher umherzuführen, uns die Kenntniß ihrer geheimen Sprache zu verschaffen und überraschende neue Bosheiten kennen zu lehren, sondern das Geheimniß der Triebfedern zum Bösen, das Geheimniß der unterirdischen Quellen, aus denen Laster, Missethaten und Verbrechen sich wie dicke Lavaströme verheerend ergießen, in seiner ganzen zerstörenden, den Boden der Gesellschaft unterwühlenden Gewalt auf uns einwirken zu lassen.
[Notes for §36 here]
§37 Wenn nun die Verwilderung der Civilisation oder vielmehr dem Christenthum, auf welchem die Cultur der Gegenwart allein beruht, ein unlösbares Räthsel ist, und als dieses Räthsel in den Geheimnissen von Paris eine der Grundlagen ausmacht, auf denen die Handlung, die Charactere und die Aussicht auf eine gänzlich umgestaltete Zukunft sich aufbauen, so muß sogleich untersucht werden, ob analog den verschiedenen Factoren, deren Product unser gegenwärtiger Weltzustand ist, nun auch die Consequenz des Christenthums: das Recht, in dem vorliegenden Epos eine entsprechende Vertretung als Basis für den idealeren Theil des Gedichts gefunden hat.
[Notes for §37 here]

Das Geheimniß der Rechtlichkeit im Staat

§38 Wie wir im Staat und im Recht leben, ist abermals ein Geheimniß für uns. Wir nehmen die Wirklichkeit des Staats ohne Weitres für die Wahrheit des Rechts hin.
[Notes for §38 here]
§39 Vor dem Geseß und dem Richter ist Alles gleich, Hoch und Niedrig, Reich und Arm. Dieser Saz steht ganz oben an im Glaubensbekenntnisse des Staats. Wenn sich uns nun dennoch augenscheinlich und handgreiflich das Gegentheil aufdrängt, so fühlen wir uns wiederum unfähig, oder vielmehr der Staat fühlt sich außer Stande, diese Erscheinung in ihrem Grunde zu fassen. Er kann sie nicht einmal zugeben und wir beugen uns unterwürfig unter das geheimnißvolle Verhängniß.
[Notes for §39 here]
§40 Zwar sehen wir einen allgemeinen Schrecken der überhandnehmenden Armuth wegen, zwar hören wir vielfach auf Emancipation, z. B. des Weibes, der Juden, der Presse dringen; aber der wesentliche Grund jenes Schreckens und dieses Ungestüms entziehen sich stets sowohl der Theorie als der Praxis und darum gelingen auch weder Abhülfe, noch Auskunft. Es steigt bei den hierhergehörigen Erscheinungen wohl eine geheimnißvolle Ahnung von einem tiefliegenden wunden Fleck innerhalb der Organisation unsrer Rechtszustände auf, die leise Stimme wird aber bald übertönt von den Grund- und Lehrsätzen, in denen wir aufwachsen und erzogen werden. Als Menschen, pflegen wir zu sagen, betrüben wir uns über das Verhängniß dieses oder jenes Unglücklichen und fühlen Mitleid mit ihm; aber Gesetz und Recht müssen ihren Lauf haben. Wir geben damit zu, daß es noch eine andre, ja sogar höhere Gerechtigkeit gäbe, als das Recht, welches hier unten im Staat geübt wird. Aber das ist ein Zugeben wider unsern Willen, wir wissen nicht wie, es ist selbst schon ein revolutionäres Verhalten gegen die Unfehlbarkeit des Gesezes. Dennoch liegt es ganz außer unserer Macht, uns desjenigen zu enthalten, was wir bei dergleichen Gelegenheiten die Macht des mitfühlenden Herzens nennen.
[Notes for §40 here]
§41 Wir fühlen uns mit dem Vermächtniß der Vergangenheit unglücklich, unbefriedigt innerhalb des historischen Staats und Rechts; aber über das Glück, das wir wünschen und hoffen, haben wir nichts als die Phantasie von einem andern Staat und einem bessern Recht. Was wir wünschen, ist uns Geheimniß, weil, was wir haben und was wir sind uns Geheimniß ist. Wir fühlen uns nicht wohl, wir haben Befürchtungen und verwerfen darum kritiklos. Das Epos übt die Kritik. Und wie aus ihr, der doch zerstörender Angriff alles Bestehenden vorgeworfen wird, ohne daß sie zugleich aufbaute, wie aus ihr einfach das ersehnte Bessere denen, welchen der Vorwurf des Niederreißens nicht gemacht wird, nichts als Traum — hervorgeht, werde ich später an Rudolf entwickeln. Hier hab ich es zunächst nur mit der Aufweisung desjenigen zu thun, was fallen muß.
[Notes for §41 here]
§42 Der in der bittersten Armuth schmachtende Steinschneider Morel spricht in seiner naiven Rechtschaffenheit das Geheimniß, ohne daß er's weiß, sehr klar aus. Er sagt: „Wenn die Reichen nur wüßten, wenn es die Reichen nur wüßten!“ „Das Unglück liegt darin, daß sie nicht wissen, was Armuth ist.“
[Notes for §42 here]
§43 Wie sollten sie's wissen? oder vielmehr: wie könnten sie's wissen? wie wär es möglich, daß sie's wüßten? Reich und Arm sind geheimnißvolle Gegensätze. „Ich bin arm und von Verzweiflung geplagt“ sagt der Steinschneider Morel, „deshalb spreche ich so.“ nämlich: „Es ist ganz gut, daß man das Böse bestraft, es wäre aber vielleicht besser, daß man es verhinderte. Man ist rechtschaffen geblieben bis in sein funfzigstes Jahr, da treibt Einen die äußerste Noth, der Hunger, zum Bösen, und es giebt einen Spitzbuben mehr, während, wenn man gewußt hätte — aber was helfen solche Gedanken? Die Welt ist nun einmal so wie sie ist. Ich bin arm und von Verzweiflung geplagt, deshalb spreche ich so; wäre ich reich, so würde ich von Festen und Vergnügungen reden.“
[Notes for §43 here]
§44 Reich und Arm können niemals eine Einheit bilden. Selbst ein und dieselbe Person, ein und dasselbe Menschenleben werden gewaltsam auseinandergerissen, wenn das Schicksal sie in den furchtbaren Strudel jenes Gegensages hineinreißt. Clara und ihre Mutter, die Baronin von Fermont, sind reich gewesen, als sie selbst aus dem Schlupfwinkel der Diebeshehler ausgestoßen werden; als die Mutter, eine Bettlerin, nur noch von dem Tode aufgenommen wird, und Clara darauf im Hospital den Grausamkeiten, Unbarmherzigkeiten und Schamlosigkeiten der Wissenschaft ausgesetzt ist — der Wissenschaft, welcher es gar nicht auffällt, daß sie durch die Zerfaserung der Leichname jener Armen, welche um zu sterben keine andere Zufluchtsstätte als das Hospital finden konnten, die unversöhnliche Differenz zwischen Reich und Arm (Reichthum ist hier schon, wenn nur die Kosten zum Begräbnisse aufgetrieben werden können, Besitz und Nichtbesitz ist also der wahre Gegensatz) bis über den Tod hinaus gleichsam verewigt.
[Notes for §44 here]
§45 Zwar kehrt diese Ungleichheit ihre Spitze nicht direct gegen jenen obersten Grundsaß des Rechts, wenn der Reiche nämlich ohne Kenntniß bleibt, was die Armuth ist, oder bloß der Cadaver des Armen, selbst bei lebendigem Leibe schon, zur Bereicherung der Wissenschaft dient; indirect aber wird die geheime wunde Stelle des Rechts doch getroffen.
[Notes for §45 here]
§46 Indessen macht sich das Geheimniß der Rechtlosigkeit auch auf viel augenscheinlichere Weise geltend.
[Notes for §46 here]
§47 Die Schwester des Epißigen wird von ihrem Mann, der sich dem Trunk und einer lüderlichen Person ergeben hat, auf's Abscheulichste maltraitirt. Als er sie bereits um jener Person willen gänzlich verlassen hat, und sie dadurch in Stand gesezt worden ist, sich den nothdürftigen Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder ungestört erwerben zu können, auch da noch ist sie seinen Ueberfällen und Mißhandlungen ausgesezt und muß sich's gefallen lassen, daß er sie ihres Verdienstes beraubt, ihr Hab und Gut zertrümmert, ja sogar die unschuldige Tochter entreißt, um sie zu einer Erwerbsquelle für sich und seine Buhle zu machen.
[Notes for §47 here]
§48 Wird das Gesez die unglückliche Frau und Mutter nicht schützen, wenn sie sich in einen Schutz begiebt? Steht jedem doch diese Freistatt offen. — Wohl, wenn er die Proceskosten tragen kann. Aber wie soll die arme Frau, welche ihres Hab' und Guts beraubt ist, jene Kosten auftreiben, um gegen ihren Räuber Recht zu suchen? Sie müßte denn selbst zur Verbrecherin werden und einen Diebstahl begehen. Doch dazu ist sie zu ehrlich; und weil sie unglücklich, arm und ehrlich ist, ist sie zugleich auch rechtlos — furchtbare Consequenz!
[Notes for §48 here]
§49 In ähnlichen und anderen Verhältnissen der Rechtlosigkeit stehen Madame Düresnel ihrem Manne, dem schrecklichen Schulmeister, die Marquise von Harville ihrem von einer abscheulichen Krankheit befallenen Gatten, Germain seinem Vater und dann seinem Principal, dem Notar Ferrand, gegenüber. Am grausamsten aber stellt sich dieser Ausnahmezustand, diese Unmöglichkeit an den Wohlthaten des Rechts Theil nehmen zu können, in den Schändlichkeiten des heuchlerischen Notar Ferrand gegen Louise Morel dar.
[Notes for §49 here]
§50 Tritt nun hiermit das geheimnisvolle Unrecht in das offene Recht selbst ein und wird dadurch die wolkenlose Klarheit, welche wir stets in Verbindung mit dem Recht zu bringen gewöhnt werden und gewohnt sind, um ein Bedeutendes getrübt; greifen ferner Verwilderung und Rechtlosigkeit immer mehr um sich, so daß Civilisation und Recht ihnen gegenüber sich mehr und mehr abschließen und exclusiv werden müssen: so entsteht die natürliche Frage, welches ist das Geheimniß des Positiven, nämlich des Rechts selbst und der Civilisation selbst? Denn ein Geheimniß muß es jedenfalls für die Ausgeschlossenen sein, sonst wären sie nicht ausgeschlossen, verwildert, roh, unterdrückt, rechtlos. Auch der Beantwortung dieser Frage in künftlerischer Weise wird unser Epos sich unterziehen müssen, wenn es, wie es muß, in Wahrheit ein Bild unsres gesammten Weltzustands, eine Kritik desselben geben will.
[Notes for §50 here]

Das Geheimniß der gebildeten Gesellschaft

§51 Das Geheimniß sucht sich der Betrachtung mit einer neuen Wendung zu entziehen. Bisher stand es als das absolut Räthselhafte, aller Halt- und Faßbarkeit Entschlüpfende, Negative dem Wahrhaften, Reellen, Positiven gegenüber, jetzt zieht es sich in dasselbe als dessen unsichtbarer Inhalt hinein. Damit giebt es aber auch die unbedingte Unmöglichkeit, erkannt zu werden, auf. Wird die Schaale zertrümmert, so muß der Kern zum Vorschein kommen. Freilich ist vorauszusehn, welch ein festes Gehäuse sich das Geheimniß zu seiner Verhüllung wählen wird. Und in der That, es scheint, als sei es eine unüberwindliche Undurchdringlichkeit, mit welcher die gebildete Gesellschaft jedem Versuche, hinter ihr eigentliches Wesen zu kommen, ihr tiefinnerstes Lebensprincip zu ergründen, Trotz bietet. Frech im Verbrechen, schüchtern und demüthig in der Armuth, tritt das Geheimniß jetzt leicht, ungenirt, coquett auf und treibt in seiner sicheren Unbegreiflichkeit unverhohlenen Scherz mit Allen, die ihm huldigen oder es wagen, um den Besitz der schönen Unbekannten ernstlich zu werben. – Dennoch ist ein neuer Versuch, den Kern auszubrechen, hier unerläßlich.
[Notes for §51 here]
§52 Bildung ist Form, nicht bloß Form, wie man sich räuspert und spuckt, wie man Diener und Knixe macht, welchen Schnitt das Kleid, welchen Stutz der Bart haben müssen, um in der Mode zu sein u. s. w.; sondern Bildung ist die Form, in welche die hervorstechendsten Eigenschaften des menschlichen Zusammenlebens und Wirkens zusammenfließen, um als plastische Gebilde daraus hervorzugehen. Der Adel der Geburt, der Vorzug der Erziehung, die Ehre des besonderen Standes, das Glück des Reichthums, die Sicherheit des Wissens schmelzen zu einem herrlichen Guß zusammen, für welchen der populäre Name: allgemeine Bildung ist. Das ist Bildung oder vielmehr das Ideal der Bildung, wie es denen, die sich in der Wirklichkeit für gebildet halten, vorschwebt. Das ist ihre Phantasie von der Bildung.
[Notes for §52 here]
§53 Ist nun der Inhalt dieser köstlichen Form angemessen? Ist es die allgemeine Vernunft, welche die geselligen Unterhaltungen zu den Schlaglichtern macht, durch die die Probleme der Menschheit und ihrer Entwicklung zur Vollkommenheit durch die Geschichte in ein klares und unzweideutiges Licht gestellt werden? Ist es die reine allumfassende Menschenliebe, welche die Geselligkeit zu einem harmonischen Ganzen macht, in dem der Rhythmus und das Maaß der Liebe allein, nicht Rang und Geburt, nicht Reichthum noch Dünkel die Stellen anweisen, die Betonungen vertheilen? Ist die Freiheit der Bewegung im geselligen Verkehr eine Folge des alle Schranken überwindenden Willens, der nur die Vernunft und die Liebe anerkennt, sie aber auch über Alles schäßt und auf den Thron erhebt? Ist überhaupt was wir allgemeine Bildung nennen, die Form des Allgemeinen, Ewigen, Idealen, die Form der Erstrebung, Verbreitung und des Genusses allgemeinen Glückes?
[Notes for §53 here]
§54 Die Geheimnisse von Paris werden hierauf die Antwort nicht schuldig bleiben.
[Notes for §54 here]
§55 Daß diese übrigens verneinend ausfallen werde, läßt sich daraus erwarten, daß überhaupt von dem Geheimniß der gebildeten Gesellschaft die Rede ist. Wäre der Inhalt von der Art, daß jene Frage bejaht werden könnte, d. h. wäre er der Form – Form ist hier Bildung – ganz entsprechend, so müßte er so unmittelbar und sonnenklar hindurchscheinen, ja geradezu auf der Oberfläche liegen, daß es gar keiner Enthüllung bedürfte.
[Notes for §55 here]
§56 Der Ball bei dem Gesandten *** ist die geeignetste Einführung in die große Welt. Hier ist Sonnenglanz in die Nacht, Frühlingsgrün und die Pracht des Sommers in den Winter hineingezaubert. Wir fühlen uns sogleich in der Stimmung, an das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen zu glauben, zumal wenn Schönheit und Grazie die Ueberzeugung unterstützen, daß wir uns in der unmittelbaren Nähe von Idealen befinden.
[Notes for §56 here]
§57 Clemence von Harville und die Gräfin Sara Mac Gregor treten, die Schönsten unter den Schönen, in diesen Kreis ein. Sie sind in eifrigem Gespräch begriffen. Diesen Wesen, die nur geschaffen zu sein scheinen, um Glück und Freude zu bereiten, wie sind wir weniger Bevorzugten begierig, ihnen abzulauschen, auf welche Weise wir den Segen geliebter Kinder, die ganze Fülle des Glücks eines Gatten zu sein, fähig sein können. Wir hören... wir staunen, wir trauen mit der Voraussetzung, die uns zu Lauschern machte, unsern Ohren nicht: – es ist auf eine Untreue gegen den Gatten abgesehn; die Gräfin Mac Gregor ist die Fürsprecherin, daß Frau von Harville einem jungen schönen Manne, der nur unglücklich ist, weil er noch nicht erhört worden ist, ein Rendezvous bewillige. Dasselbe wird bewilligt und die Gräfin triumphirt hinterher; denn ein anonymes Billet wird dem betrogenen Gatten von der verbrecherischen Zusammenkunft Kenntniß geben: die Marquise von Harville wird nicht allein von ihrem Gatten entlarvt werden, sondern, was der Gräfin Mac Gregor als die Hauptsache gilt, Rudolf, der souveräne Fürst von Gerolstein, wird die Marquise nunmehr ebensosehr verachten, als er sie bisher geliebt hat, und diese Nebenbuhlerin wird der Erfüllung jener Verheißung nicht länger im Wege stehen, der zufolge die Gräfin Mac Gregor dereinst doch noch den Thron Rudolf's zu theilen hofft. Doch noch; denn ihr ganzes Leben ist von dem Augenblick an, wo sie sich der Macht ihrer Schönheit bewußt geworden, diesem Ziel zugewendet gewesen; auch war sie einst nahe daran, es zu erreichen. Unternehmend genug, um, in Folge einer heimlichen Ehe, Mutter eines Kindes zu werden, dessen Vater der Erbprinz von Gerolstein, hat ihr jedoch dieses Kind, schon als sie es unter ihrem Herzen trug, keinen andern Werth gehabt, als den, mit ihren Ansprüchen auf den Thron offen hervortreten zu können. Als alle ihre Kunst darauf an den Umständen und der Festigkeit des alten Herzogs scheitert, wird es ihr nicht schwer, ihr Kind in die Fremde zu stoßen, sein Tod verursacht ihr keine Trauer. Als sie dann später hoffen darf, ihre Tochter sei noch unter den Lebenden, ja dieselbe erfreue sich durch eine wunderbare Verkettung der Schicksale Rudolfs besonderen Schußes, da ist es nicht die Mutterliebe, welche, wenn auch nicht auf's neue, so doch überhaupt in ihr erwacht, sondern eine neue Zuversicht, ihr Ziel jetzt sicher zu gewinnen.
[Notes for §57 here]
§58 Statt des allgemein menschlichen Bestrebens, welches wir von der Schönheit, Bildung und ausgezeichneten Stellung zu erwarten berechtigt sind, finden wir das ganze Streben der Gräfin auf individuellen egoistischen Vortheil gerichtet, von dessen Erreichung wir bei der Art und Weise, wie die Gräfin auf ihn hinarbeitet, uns gar nicht versprechen dürfen, daß sie ihn für das Glück der Unterthanen des Fürsten von Gerolstein anwenden wird.
[Notes for §58 here]
§59 Sarah ist übrigens nicht etwa eine Ausnahme in diesen glänzenden Zirkeln, wenn auch eine Spitze. Des unsittlichen Verhältnisses der Herzogin von Lucenay mit dem verführerischen Vicomte von St. Remy wird in der Unterhaltung nicht mit Indignation gedacht, nein, als sei von einer ganz natürlichen, dabei höchst interessanten, anziehenden Erscheinung die Rede. Ja die schönen Herzoginnen und Gräfinnen lassen sogar einen gewissen Neid hervorblicken, daß sie nicht selbst die Gegenstände der Anbetung dieses Mannes sind, der "für die Frauen das ist, was die Courtisanen für die Männer sind."
[Notes for §59 here]
§60 Der Vicomte von St. Remy, ausgestattet mit allen Vorzügen des Geistes, mit allen Reizen des Körpers, gefällt sich nicht allein in dieser entwürdigenden Rolle, sondern er setzt auch Alles an das Glück, sie fortspielen zu können, d. h. unter Anderen – ein „Boudoir“ zu seinen verliebten Abentheuern zu besitzen. Alles ist hier auf Ungestörtheit des Glücks und besonders Täuschung derjenigen berechnet, die dasselbe stören könnten, zu stören ein Interesse haben und berechtigt sind; ferner darauf, daß man ohne Bild sagen solle: „die Damen, welche über die gefährliche Schwelle schritten, um zu dem Herrn von St. Remy zu gelangen, gingen auf blumigen Wegen in ihr Verderben.“ Alles setzt er daran, Vermögen, die Fähigkeiten seines Geistes, die Energie seines Willens, selbst die Ehre: er wird Fälscher. Zuletzt hat er alle seine Kräfte so weit erschöpft und vergeudet, daß ihm nicht einmal der Muth bleibt, sich das Leben zu nehmen.
[Notes for §60 here]
§61 Diesem Mann ergiebt sich die Herzogin von Lücenay mit einer eines bessern Gegenstands würdigen Aufopferung. Das an sich sittlichste Verhältniß: die Liebe, wird durch eine solche Berührung unrein, oder vielmehr mit dieser Berührung hört es auf, Liebe zu sein.
[Notes for §61 here]
§62 In der That der Marquise von Harville sowohl als der Herzogin von Lucenay fehlt die Befriedigung des Herzens. Sie haben in der Ehe nicht den Gegenstand der Liebe gefunden, so suchen sie nun außerhalb den Gegenstand der Liebe. Die Liebe ist ihnen in der Ehe ein Geheimniß geblieben, welches gleichwohl zu enthüllen sie von dem gebieterischen Drange des Herzens angetrieben werden. So ergeben sie sich denn einer geheimnißvollen Liebe. Während in der Ehe die Liebe der Kern und ewige Inhalt sein soll, die gebildete Welt darin jedoch nur ein äußeres Band und Mittel etwa zur Fortpflanzung der reinen Race sehen will, werden die Opfer dieser lieblosen Ehen unwillkürlich dahin gedrängt, die Liebe selbst zu einem Aeußern, einem sogenannten Verhältniß herabzusehen, und für das Innere, Belebende, Wesentliche der Liebe das Romantische, das Geheimniß zu halten.
[Notes for §62 here]
§63 Was aber ist das Geheimniß der Liebe? Nicht die schattigen Gänge in den Gebüschen, nicht das natürliche Halbdunkel der Mondnacht, nicht das künstliche, welches von köstlichen Gardinen und Vorhängen erzeugt wird, nicht der Duft der Blumen und Oele, nicht der sanfte und betäubende Ton der Harfen und Orgeln, nicht die Macht des Verbotenen. Dieß Alles ist nur das Geheimnißvolle; das Geheimniß darin ist das Erregende, Berauschende, Betäubende, die Gewalt der Sinnlichkeit, welche wir uns zwar nicht eingestehn wollen, die aber eben nur darum so ungeheure Macht über uns hat, weil wir sie aus uns herausbannen, nicht als unsre eigne Natur anerkennen unsre eigne Natur, welche wir dann auch zu bewältigen im Stande wären, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft, der wahren Liebe, der Kraft des Willens geltend zu machen strebt. Die Sinnlichkeit beherrscht uns nur darum so unbedingt, weil wir einen süßen Zauber darin empfinden, uns von ihr tyrannisiren zu lassen.
[Notes for §63 here]
§64 Hört also die Liebe auf, das Wesentliche der Ehe, der Sittlichkeit überhaupt zu sein, so wird die Sinnlichkeit das Geheimniß der Liebe, der Sittlichkeit, der gebildeten Gesellschaft Sinnlichkeit, sowohl in ihrer ausschließlichen Bedeutung, wo sie das Zittern der Nerven, der glühende Strom in den Adern ist, als auch in der umfassenderen, als welche sie sich zu einem Schein geistiger Macht steigert, zu Herrschsucht, Ehrgeiz, Ruhmbegier sich erhebt.
[Notes for §64 here]
§65 Die Herzogin von Lucenay, die Gräfin Mac Gregor repräsentiren beide Bedeutungen der Sinnlichkeit als des Geheimnisses der gebildeten Gesellschaft.
[Notes for §65 here]
§66 Es kann für diese Auffassung nicht gleichgültig und da bloß zufällig sein, daß Eugen Sue uns gerade auf einem Balle in die große Welt einführt. Der Tanz ist die allgemeinste Erscheinung der Sinnlichkeit als Geheimniß. Die unmittelbare Berührung, die Umschließung der beiden Geschlechter, welche das Paar bedingt, werden im Tanze gestattet, weil sie troß des Augenscheins und der dabei sich wirklich fühlbar machenden süßen Empfindung doch nicht als sinnliche Berührung und Umschließung gelten. Denn gälte sie in der That dafür, so wäre nicht einzusehn, warum die Gesellschaft bloß beim Tanze diese Nachsicht übte, während sie umgekehrt mit so harter Verdammung verfolgt was, wenn es sich anderwärts mit gleicher Freiheit zeigen wollte, als unverzeihlichster Verstoß gegen Sitte und Schaam Brandmarkung und unbarmherziges Ausstoßen nach sich zieht.
[Notes for §66 here]
§67 Zwar hat der Dichter unterlassen, uns unter das Gewühl der Tanzenden zu mischen. Es kam ihm nur darauf an, den Hintergrund zu entwerfen, von welchem das Treiben der gebildeten Gesellschaft sich abhebt. Dieß ist ihm denn auch vollständig dadurch gelungen, daß er uns auf einen Ball versezt, und wenn nun auch durch die Gestalten des Vordergrunds, die Marquise von Harville, die Herzogin von Lucenay, die Gräfin Mac Gregor, den Vicomte von St. Remy, Rudolf, den Kommandanten u. A. die Gruppen im Hintergrunde verdeckt worden, so ist dieser doch selbst so wunderherrlich gemalt, daß die Phantasie sich mit Leichtigkeit jene Ballerscheinungen hineinzeichnen mag, zu denen wir die Muster in der Erinnerung der eigenen Erfahrung besitzen. Wir stellen uns die coquette Triumphatorin vor, umschwärmt und getragen von zahlreichen Anbetern. Wir fühlen aus dem muthwilligen Blick ihres Auges die Unbefriedigung ihres Herzens heraus, wir sehen es dem launenhaften Spiel mit der Vernunft und Unvernunft, dem Willen und Unwillen, dem Herzen und der Herzlosigkeit ihrer Sklaven an, daß sie sich nach dem Ernst sehnt; wir ahnen, daß sie nur mit der Coquetterie, dieser Waffe der Unnatur, kämpft, um sich von einer großen Natur besiegen zu lassen, deren Triumph sie dann berauscht in der Umarmung des Siegers feiern wird.
[Notes for §67 here]
§68 In der That, das Geheimniß des geselligen Tons und Tacts, das Geheimniß, wann der Blick zu rechter Zeit erhoben und niedergeschlagen, wie Diener und Knixe mehr oder weniger steif und förmlich zugemessen, wie die Worte gewogen, die Rede zur Inhaltlosigkeit ausgehöhlt werden müssen — das Geheimniß dieser äußersten Unnatur ist die Sehnsucht zur Natur zurück zu kehren.
[Notes for §68 here]
§69 Darum wirkt eine Erscheinung wie die Cecily's in der gebildeten Gesellschaft auch so electrisch, ist von so ungemeinen Erfolgen gekrönt. Ihr, aufgewachsen als Sklavin unter Sklaven, ohne Bildung, allein angewiesen auf ihre Natur, die zunächst nur ein reicher Schaß von Anlagen zu Vorzügen wie zu Verirrungen ist, ist diese Natur der alleinige Lebensquell. Plöglich nun an einen Hof unter Zwang und Sitte verseßt, lernt sie das Geheimniß derselben bald durchschauen; lernt die Macht der Natur, ihrer Natur gebrauchen und überflügelt in ihren Triumphen bald die erfahrenste Coquette. In dieser Sphäre, die sie unbedingt beherrschen kann, da ihre Macht — die Macht ihrer Natur — für einen räthselhaften Zauber gilt, muß Cecily nothwendig in's Maaßlose verirren, während einst, als sie noch Sklavin war, dieselbe Natur sie lehrte, jedem unwürdigen Ansinnen des mächtigen Herrn Widerstand zu leisten und ihrer Liebe die Treue zu bewahren.
[Notes for §69 here]
§70 Cecily ist das enthüllte Geheimniß der gebildeten Gesellschaft. Die verachteten Sinne durchbrechen am Ende die Dämme und schießen in gänzlicher Zügellosigkeit dahin. Diese Zügellosigkeit ist aber schon ein Wunsch hinter den Dämmen. Was durch die Ketten angeschlossen wird, ist immer nur die Kraft und das Princip, sie abzuschütteln.
[Notes for §70 here]

Das Geheimniß der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit

§71 Das Geheimniß als das der gebildeten Gesellschaft zieht sich zwar aus dem Gegensaß in das Innere hinein. Dennoch hat die große Welt wiederum ausschließlich ihre Zirkel, in denen sie dieses Heiligthum bewahrt. Sie ist gleichsam die Kapelle für dieses Allerheiligste. Aber für die im Vorhofe ist die Kapelle selbst das Geheimniß. Die Bildung ist also in ihrer exclusiven Stellung für das Volk dasselbe Räthsel, was die Armuth für den Reichen, die Rohheit für den Gebildeten ist.
[Notes for §71 here]
§72 Die Bildung kann und will in ihren Kreis noch nicht alle Stände und Unterschiede hineinziehn. Erst das Christenthum und die Moral sind im Stande Universalreiche auf dieser Erde zu gründen. Das Christenthum ist das Reich nicht von dieser Welt, aber auf dieser Welt. Christus ist der Sohn Gottes, aber der Heiland der Menschen. Die Herrschaft der Moral ist umgekehrt ein Reich von dieser Welt, aber nicht auf dieser Welt. Im Gewissen, unserm irdischen, menschlichen Gewissen liegt die Volkssouveränität dieses Reiches, aber das Volk selbst ist ein Ideal, welches hier unten noch nicht gefunden wird. Das Geseß des Christenthums ist von Gott in das gläubige Herz, das Gemüth, eingeschrieben, das Geseß der Moral giebt sich selbst der Verstand. Das Christenthum ist Universalmonarchie, das Reich der Moral Universalrepublik. Der Fromme fürchtet den Zorn, hofft auf die Gnade Gottes, der Rechtschaffene ist ein sein Recht Schaffender. Also absolut getrennt liegt das Christenthum jenseits, die Moral diesseits.
[Notes for §72 here]
§73 Dies Gegenüberstehen bloßer Begriffe, hat die Gegenwart jedoch erkannt, kann es nur zu Scheingefechten bringen, in denen die Platzpatronen knallen. Friedensmanöver, um die Kräfte für den Krieg zu üben. In dem luftigen Reich der Begriffe mögen Christenthum und Moral unversöhnliche Gegensäße sein; das evangelische Christenthum und die lebendige Moral reichen sich heut zu Tage die Hände: Es gilt das Christenthum zu beweisen durch Leben und That; die stille, zurückgezogene, auf Gott und das eigene Innere gerichtete Beschaulichkeit reichen nicht mehr aus.
[Notes for §73 here]
§74 Der Notar Ferrand geht häufig in die Messe, sieht oft Geistliche bei sich.
[Notes for §74 here]
§75 Er wohnt in einem düstern Hause, verschmäht Pracht und Eleganz, lebt äußerst sparsam, und diese Sorglosigkeit für den Wohlstand ist Beweis für seine Uneigennüßigkeit und Sittenstrenge.
[Notes for §75 here]
§76 Er spricht rücksichtslos die Sprache der Rechtschaffenheit gegen den unwürdigen St. Remy: „Ich schenke Ihnen durchaus keine Theilnahme. Ihr Vater war ein Mann von Ehre, und ich möchte seinen Namen nicht vor den Assisen sehen. Ich bin gütig gegen die, welche es verdienen, als ehrlicher Mann hasse ich die Betrüger.“
[Notes for §76 here]
§77 Der Frau von Orbigny erklärt er rund heraus: „Will Ihr Gemahl gegen seine Tochter, die Frau von Harville, einen Entschluß fassen, der mir nicht geziemend erscheint, so dürfen Sie auf meine Mitwirkung nicht rechnen. Offen und grade, so ist mein Verhalten immer gewesen.“
[Notes for §77 here]
§78 Entrüstet, weist er den Antrag der Gräfin Mac Gregor zurück, ihr bei der Unterschiebung eines Kindes behülflich zu sein: „Das ist eine Niederträchtigkeit! Zum erstenmal in meinem Leben erfahre ich eine solche Schmach, die ich nicht verdient habe, Du weißt es, guter Gott!“
[Notes for §78 here]
§79 Er giebt dem armen Steinschneider, der so unglücklich gewesen ist, einen Diamant zu verlieren, 1300 Fr. und läßt sich nur der Ordnung wegen einen Wechsel auf drei Monat ausstellen, der alle Vierteljahre erneuert werden kann. Den Dank weist er mit seiner gewöhnlichen redlichen Barschheit zurück: „Schon gut! schon gut! was ich thue, ist ganz einfach.“
[Notes for §79 here]
§80 Er will bei der Befreiung der Marienblume aus menschenfreundlicher Bescheidenheit nur unter dem Namen des Gönners bekannt sein.
[Notes for §80 here]
§81 Jacob Ferrand ist ein frommer und rechtschaffener Mann und findet als solcher die allgemeinste Anerkennung.
[Notes for §81 here]
§82 Ihm strömen Depositen, Fideicommisse, Geldanlagen, kurz alle jene Geschäfte zu, welche auf der anerkanntesten Rechtlichkeit beruhen.
[Notes for §82 here]
§83 Der Pfarrer ermahnt Louisen, die Tochter des Steinschneiders, und sagt zu ihr mit Bezug auf Ferrand, sie müßte doppelt lasterhaft sein, wenn sie in einem so frommen Hause auf Abwege gerathen konnte, wo sie immer die besten Beispiele vor Augen hätte.
[Notes for §83 here]
§84 Germain nennt den Notar hart und streng, aber den redlichsten Mann von der Welt.
[Notes for §84 here]
§85 Der Graf von Orbigny will, als es sein Testament zu machen gilt, sich nicht nach dem Ausspruche seines Notars, weil der, um ihm gefällig zu sein, in seinem Sinne sich äußern möchte, sondern nach dem eines Mannes richten, dessen strenge Rechtlichkeit sprichwörtlich geworden ist, des Herrn Jacob Ferrand.
[Notes for §85 here]
§86 Wenn ein Mensch wie St. Remy in ihm einen gutmüthigen oder lächerlichen Menschen zu finden erwartet, da er sich die Leute von sprichwörtlicher Rechtschaffenheit fast dumm und albern vorzustellen pflegte, so ist das in seiner Weise ein sehr gewichtiges Zeugniß für den wahren Werth Ferrands.
[Notes for §86 here]
§87 Die Herzogin von Lucenay steht nicht an, ihm das Geheimniß ihrer Ehre und Liebe anzuvertrauen, denn, redet sie ihn an: „Ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre und Rechtlichkeit sind.“
[Notes for §87 here]
§88 Herr Jacob Ferrand ist der seltne und kostbare Notar, der zu guten Geschäften råth.
[Notes for §88 here]
§89 Der Herzog von Lucenay rühmt von ihm: er ist ein Mann von wahrhaft antiker Redlichkeit.
[Notes for §89 here]
§90 Mutter Bouvard, die Verkäuferin im Temple, sagt, er sei ein außerordentlich frommer, wahrhaft heiliger Mann; er hat in seiner Expedition ein Crucifix, als wäre sie eine Sakristei.
[Notes for §90 here]
§91 Auf die bloße dringende Empfehlung und den Wunsch des frommen und angesehenen Ferrand öffnet sich das Gefängniß der Marienblume.
[Notes for §91 here]
§92 Der Abbe tröstet ihn in der Krankheit und sagt zu ihm: Wir sind allzumal Sünder, aber wir besitzen nicht Alle die christliche Liebe, die Sie auszeichnet, mein würdiger Freund. O, die sind selten, welche gleich Ihnen von den irdischen Gütern sich losreißen und nur daran denken, wie sie dieselben noch bei Lebzeiten auf recht christliche Weise verwenden. Ich wiederhole es, Leute wie Sie sind selten und darum nicht genug zu segnen.
[Notes for §92 here]
§93 Weil wenige Leute — Polidori spricht das Wesen der Sache aus — so wie Jacob Ferrand, Reichthum mit Frömmigkeit, Verstand mit Wohlthun verbinden.
[Notes for §93 here]
§94 Genug, Jacob Ferrand ist, was Reich und Arm, Vornehm und Niedrig, kurz die Welt einen frommen und rechtschaffenen Mann nennt. Sein Ruf als solcher ist wohlbegründet und steht unerschütterlich fest. So fest, daß er der unglücklichen Louise Morel einen Schlaftrunk reichen lassen, sie im Schlaf überwältigen, entehren, und als sein Opfer an seiner Seite erwacht und entsetzt fliehen will, dasselbe zurückhalten und mit der Miene der Verwunderung fragen kann: „Was fällt dir ein, bin ich nicht mit deiner Bewilligung hier? Ich habe deinen Schlaf benußt? ich? du spaßest. Wer soll dir diese Lüge glauben? Bist du denn wirklich närrisch? Was willst du zu deinem Vater sagen? Daß es dir gefiel, mich hier bei dir aufzunehmen? das steht dir frei; du wirst ja sehen, wie er dich empfängt. Wolltest du so frech sein und von Gewaltsamkeit reden? Verlangst du einen Beweis für deine Lüge? Und er hat für den Beweis gesorgt.
[Notes for §94 here]
§95 Sein Ruf steht unerschütterlich fest, so fest, daß Louise, als sie bereits hoch schwanger, einen Plan des Notars gegen ihr Leben belauscht und dann später schrecklich gemißhandelt wird, nicht wagt, um Hülfe zu rufen, aus Furcht, er möge sie ersticken und dann sagen, sie sei bei der Entbindung gestorben.
[Notes for §95 here]
§96 Der Ruf seiner Frömmigkeit und Rechtschaffenheit steht unerschütterlich fest, so fest, daß er auf diese Weise sein eigen Kind morden und dann die bejammernswerthe Mutter des Kindesmordes grausam anklagen, den Verdacht der Vaterschaft aber auf Germain ableiten kann.
[Notes for §96 here]
§97 Aber wozu die Grausamkeiten und Verbrechen dieses Ungeheuers weiter aufzählen, der Ruf des Notar Ferrand als eines frommen und rechtschaffenen Mannes steht ja unerschütterlich fest, selbst so fest, daß, als Rudolf ihn — furchtbare Strafe! — zur Büßung des Elends, das er unter seinen Mitmenschen verbreitet hat, zwingt, von dem verbrecherisch angesammelten Vermögen wirklich frommen Gebrauch zu machen; ihn zwingt, nun wirklich rechtschaffen zu handeln, daß da der Pfarrer und die Welt ihn segnen. Der Ruf seiner Frömmigkeit und Rechtschaffenheit folgen ihm über das Grab hinaus.
[Notes for §97 here]
§98 Das Geheimniß seiner Verbrechen nimmt er dagegen unenthüllt — wenigstens öffentlich unenthüllt — mit in das Grab. Dort werden sie vergessen wie seine Asche. Was ihn überlebt, sind seine guten Thaten, was ihn unsterblich macht, ist sein Testament — die Armenbank — was nicht untergeht mit seinem der Vergänglichkeit unterworfenen Theil, ist seine Heuchelei: sein Vermächtniß ist das Geheimniß der scheinenden Frömmigkeit und Rechtschaffenheit.
[Notes for §98 here]
§99 Jacob Ferrand ist der vollkommene Heuchler, dem selbst der Tod die Maske nicht abzureißen im Stande ist. Um eine lange Reihe von Jahren die Rolle fortspielen zu können, verleihen der Stoff und die Nahrung der Zeit selbst der Beschränktheit Kunst und Geschick genug.
[Notes for §99 here]
§100 Madame Roland, die spätere Gräfin von Orbigny, Stiefmutter der Frau von Harville, liefert hiervon den Beweis.
[Notes for §100 here]
§101 Ist dem Notar die Heuchelei nun Sache des vollständigsten Bewußtseins, der Madame Roland aber gleichsam Instinct, so steht zwischen ihnen die große Masse derer, die hinter das Geheimniß nicht kommen können und doch sich unwillkührlich gedrungen fühlen, daß sie's möchten. So ist es denn nicht Aberglaube, welche Hoch und Niedrig in die unheimliche Behausung des Charlatans Bradamanti (Abbe Polidori) führt, nein, es ist das Suchen des Geheimnisses, um vor der Welt gerechtfertigt zu stehen. Das gefallene Mädchen will nicht verachtete Mutter werden; der Charlatan kennt ein Mittel. Es gilt einem Mord; aber der Mörder will nicht Mörder, sondern geachtet, geliebt und gesegnet sein. Bradamanti hat ein Gift.
[Notes for §101 here]

Das Geheimniß ein Spott

§102 Jezt ist das Geheimniß Gemeingut geworden, das Geheimniß aller Welt und jedes Einzelnen. Entweder ist es meine Kunst oder mein Instinct, oder ich kann es mir als eine käufliche Waare verschaffen. Das Geheimniß ist also durchaus nicht mehr die Verborgenheit und Unzugänglichkeit selbst, sondern, daß es sich verbirgt, sich unzugänglich macht, oder noch besser, daß ich's verberge, ich's unzugänglich mache. Die verschlossenen Thüren sind es nunmehr, hinter denen das Geheimniß ausgebrütet, gebraut, verübt wird. Damit ist aber auch die Möglichkeit gegeben, daß ich es behorchen, belauschen, ausspioniren kann.
[Notes for §102 here]
§103 Hast du aber selbst etwas zu verbergen, welches das Licht scheut, so gewährt dir's eine boshafte Lust, das Geheimniß eines Andern entlarvt zu sehen. Du empfindest die Wonne der Schadenfreude, daß der Andre nicht besser ist, als du bist, und verfolgst ihn mit Spott und Hohn, daß er doch besser sein wollte als du. Und besser sein will Jeder als der Andre, weil er nicht allein die Triebfedern seiner guten Handlungen geheim hält, sondern seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen bemüht ist.
[Notes for §103 here]
§104 Diese Schadenfreude ist denn auch die Quelle des gemeinen Tagesgeklätsches, in welchem die Nachbarn sich durch Mittheilung der Resultate ihres Spionirens über ihr eigenes Licht und Wasserscheues Innere Trost einreden.
[Notes for §104 here]
§105 Wenn aus diesem Grunde Jedermann den Hang hat, hinter des Andern Geheimnisse kommen zu wollen, so werden doch nur Wenige im Stande sein, ihre Lust zu befriedigen. Am günstigsten sind in dieser Hinsicht die Dienstboten gestellt. Sie sehen ihre Herrschaft ewig im Negligee. Dennoch sind sie nicht uninteressirt genug, die nackte Blöße dringt sich ihnen auch von selbst zu sehr auf, als daß sie zu dem reinen und ungetrübten Genuß kommen könnten, welcher in der bloßen Enthüllung liegt, ohne daß von dieser irgend ein individueller Nußen oder Schaden sich versprechen oder voraussehen ließe. Patterson und Boyer, der Kutscher und Kammerdiener des Vicomte von St. Remy machen sich daher zwar den Ruin ihres Herrn gefühllos zu Nuße und repräsentiren damit die bittre Ironie des Schicksals, welches den Diener zum Herrn seines Herrn macht, diesen in die Gewalt und Gnade seines Dieners giebt, sind jedoch zu der komischen Ironie, welche so wenig egoistisch ist, daß sie mit der bloßen Verspottung sich begnügt, nicht unbefangen genug. Die Stellung des Portiers gewährt dagegen die verhältnißmäßige Unabhängigkeit, um über die Geheimnisse des Hauses freien, interesselosen, wenn auch derben und verlegenden Spott auszuschütten. Anastasia Pipelet, die Frau des Portiers, wie sie nicht müde wird, den verliebten, oft angeführten Kommandanten Karl Robert zu verhöhnen, wie sie sich und ihre Freundin, der Aufterfrau, das Vergnügen verschafft, durch den Schleier hindurch das Gesicht der unglücklichen Frau zu sehen, ehe sie derselben den Weg zu dem Manne weist, welcher sie im prächtigen, großgeblumten Schlafrocke und seine gestickte, griechische Sammetmüße auf dem Kopfe erwartet; wie sie lachend ausruft: „heut scheint es was Ordentliches zu werden. Ich wünsche viel Vergnügen!“ Anastasia Pipelet hat die Aufgabe, gewissermaaßen den kleinen Krieg gegen das Geheimniß zu eröffnen.
[Notes for §105 here]
§106 Ihr Mann, der Portier Alfred Pipelet, steht ihr mit wenigerem Glück zur Seite. Wenn Anastasia nämlich das Geheimniß mit Spott angreift, so ist das Geheimniß, dem Alfred unterliegt, nichts als ein Spott, ein Streich, der ihm gespielt wird, nur daß er an die Posse nicht glauben will, sondern gegen das furchtbare Complot seines Todfeindes Cabrion die Polizei zu Hülfe ruft. Was aber hat ihm Cabrion gethan? Er hat ihm als Erscheinung einen Kuß auf das kahle, ehrwürdige Haupt gegeben. Er hat auf geheimnißvolle Weise über das keusche Ehebett der beiden Pipelets sein verhaßtes Bild zu practiciren gewußt. Er hat Pipelet seinen Freund für's Leben genannt, u. s. w. Pipelet aber bleibt bei jeder neuen Posse unbeweglich, wie bei allen wichtigen Gelegenheiten seines Lebens und kann nur durch das Universalmittel seiner Frau, Abspath, wieder zur Besinnung gebracht werden.
[Notes for §106 here]
§107 Sein Glaube ist das Geheimniß der Andern. So glaubt er denn auch an die Keuschheit seiner Frau, glaubt sie jeden Augenblick unwürdigen und schaamlosen Angriffen ausgesetzt. Immer hört er den Hülferuf ihrer verletzten Züchtigkeit. Und wenn er an das abscheuliche Attentat denkt, wird er vor Schaam ganz roth. Als aber die unverschämten Menschen, deren Opfer er seine Frau glaubt, endlich bei seiner Thür vorbeikommen und es gilt, ihnen dreist auf den Leib zu gehen und sie zur Rechenschaft zu ziehen, da ist dieß zwar auch sein erster Gedanke, an den er indeß nur mit einem Seufzer sich erinnern kann. Er bedenkt, daß er sich ihren Blicken, vielleicht selbst ihren unverständigen Reden aussehen müßte, da empört sich sein Inneres und er kommt außer sich. „Ich bin nicht schlechter als ein Andrer“, erzählt er, „aber als die schaamlosen Menschen hier vorbeigingen, trat mir das Blut in's Gesicht und ich konnte nicht anders, ich fuhr rasch mit der Hand vor die Augen, um die wollüstigen Bösewichter nicht zu sehen.“ Ja, guter Alfred, das ist das Geheimniß, daß du dir die Augen zuhältst. Denn hättest du den Muth zu sehen, so würde jedes Geheimniß bald vor deinem festen Blicke in Nichts zerfließen.
[Notes for §107 here]
§108 Der Sieg über den kindischen alten Mann ist des Geheimnisses entschiedenste Niederlage. Ein Gescheuterer, Muthigerer wird sich durch die Posse nicht täuschen und betrügen lassen, ihr keine Macht über sich einräumen.
[Notes for §108 here]
§109 Wenn Anastasia also das Geheimniß verspottet, so kommt an Alfred die Selbstverspottung des Geheimnisses zum Vorschein. An ihm entwickelt sich der Humor des Geheimnisses.
[Notes for §109 here]

Lachtaube

§110 Ein Schritt bleibt noch zu thun übrig. Das Geheimniß ist durch seine eigene Consequenz, wie wir an Pipelet und durch Cabrion gesehen haben, dahin getrieben worden, sich zum bloßen Possenspiel herabzuwürdigen. Es kommt nur noch darauf an, daß sich das Individuum nicht mehr dazu hergiebt, die alberne Komödie zu spielen.
[Notes for §110 here]
§111 Lachtaube thut diesen Schritt auf die unbefangenste Weise von der Welt.
[Notes for §111 here]
§112 Wenn die Prude mit der größesten Peinlichkeit auf ihren guten Ruf bedacht ist, sich nicht anders als mit Mutter oder Tante öffentlich sehen läßt, so lebt dieses Mädchen mit der heitern, lebendigen, glücklichen, beweglichen, prosaischen, sorglosen, obgleich gutmüthigen und mitleidigen Natur im ungenirtesten Umgange mit demjenigen, der grade ihr Nachbar ist. Sie weckt ihn des Morgens, macht ihm die Stube sauber und ordentlich, sorgt für seine Wäsche, läßt sich dafür ihr Zimmer bohnen, hängt sich Sonntags an seinen Arm und läßt sich zum Diner bei einem Restaurateur oder in's Theater führen oder besteht mit ihm, wenn sie beide kein Geld haben, die Kaufmannsläden. Dabei freut sie sich, daß sie ihrem Freunde in dem dunkelblauen Levantinckleid, im niedlichen Häubchen mit Spitzengarnirung und Orangeschleifen, in dem Stiefelchen von Satin turc und dem prächtigen Shawl von Bourre de Soie, der ganz wie Caschemir aussieht, Ehre macht. Sie läßt sich von ihrem Nachbar den Shawl von ihrem Bette holen, von ihm unter dem Chemiset feststecken, fordert ihn auf, ihr des Abends, wenn er grade nichts Anders vorhat, in ihrem Zimmerchen vorzulesen, sagt zu ihm „Männchen“ und läßt sich von ihm „Frauchen“ nennen, kurz verkehrt mit ihm ohne Zurückhaltung und auf vertrauteste Weise. So hat sie's mit Gireaudeau, Cabrion, Germain getrieben, mit Rudolf beginnt sie von neuem, und troßdem hat sie stets ihre Unschuld bewahrt. Sie hat ihre Unschuld bewahrt, nicht weil die geheimnißvolle Flamme der Tugend in ihrem Busen brennt, nein, sie macht gar kein Geheimniß daraus: weil sie keine Zeit hat, um eine Liebschaft einzugehn. Rudolf fragt: „was hindert die Zeit, um einen Liebhaber zu haben?“ — „Was die Zeit hindert? Alles,“ antwortet sie. Erstlich würde ich eifersüchtig sein, wie eine Tigerin, und mich mit den schrecklichsten Gedanken quälen. Verdiene ich so viel Geld, daß ich des Tags ein Paar Stunden durch Jammern und Weinen verlieren kann? Und wenn man mich hinterginge, welche Thränen! welcher Gram! Das würde mich unendlich zurückbringen! Noch schlimmer wär's, wenn er zu artig wäre. Könnte ich dann einen Augenblick ohne ihn leben? Und wenn er mich verließe? Bedenken Sie! Ach, ich weiß gar nicht, was alles mir widerfahren könnte. So viel ist gewiß, daß meine Arbeit darunter leiden würde, und was sollte dann aus mir werden? Ich kann kaum jeßt, da ich ganz ruhig bin, Alles verdienen, was ich brauche, wenn ich zwölf bis funfzehn Stunden täglich arbeite. Wie könnte ich die Zeit wieder einbringen, wenn ich durch Jammern und Klagen wöchentlich ein Paar Tage einbüßte? Sie sehen selbst, es geht nicht,“ schließt sie dann. Sie macht sich gar kein Verdienst daraus. Sie beruft sich nicht auf das Geheimniß der Tugend in ihrem Busen. Ganz einfach erklärt sie: „ich habe nicht Muße gehabt, um verliebt zu sein.“ Und als sie nun später für den unglücklichen Germain, der des Diebstahls angeklagt, im Gefängnisse sich nur mit seiner früheren Nachbarin beschäftigt, wirklich nicht mehr bloß Freundschaft, sondern die wahrhafte und innigste Liebe empfindet, da verbirgt sich hinter ihrer Liebe nicht jenes Geheimniß, welches die Liebenden in ihrer Liebe nicht eher befriedigt sein läßt, als bis sie einander besigen, bis sie sich einander Arm in Arm liegen. „Ich will nicht daran denken, sagt sie zu Rudolf. „gewiß ist, ich werde für Germain alles thun, was ich vermag, so lange er im Gefängnisse ist. Ist er frei, dann wird es immer Zeit sein zu überlegen, ob ich Liebe oder Freundschaft für ihn empfinde. Ist es Liebe, nun so mag es Liebe sein. Bis dahin werde ich mich nicht darum kümmern.“ Ihre Liebe ist reine Liebe, Liebe ohne Schaam, denn ungetrübt ist sie von romantischen Träumen, die das Blut aufregen. Denen, welchen die Gluth im Busen, das Feuer in den Adern das Geheimniß der Liebe ist.
[Notes for §112 here]
§113 Lachtaube baut auf ihre Gesundheit und Jugend, d. h. auf sich selbst. Eine fremde Macht kennt sie nicht, die ihr ihr Selbstvertrauen stören könnte. Darum ist sie so heiter und guten Muths. Als Rudolf sie daher ermahnt, an die Zukunft zu denken, „wenn Sie z. B. krank würden,“ lacht sie laut auf und erwiedert: „Ich krank? Mit achtzehn Jahren, bei dem Leben, das ich führe, ist das nicht möglich. Ich stehe im Winter wie im Sommer um fünf Uhr auf und lege mich um zehn oder elf Uhr nieder; ich esse nach meinem Appetit, der nicht groß ist, friere nicht, arbeite den ganzen Tag, singe wie eine Lerche, schlafe wie ein Murmelthier und bin leichten zufriedenen Herzens; ich habe die Gewißheit, daß mir es nie an Arbeit fehlt, warum also sollte ich krank werden? Das wäre zu drollig.“
[Notes for §113 here]
§114 In der That, es ist nicht möglich, daß sie krank oder unglücklich werde, da nichts Macht über sie hat. Sie ist sich selbst Alles. Sie wünscht sich also auch Nichts, wenigstens Nichts, was den Namen Wunsch verdiente. Denn was sie wünscht, den Aufsag auf ihrem Kamin, den wird sie ja erhalten. „Wann?“ fragt sie sich und antwortet heiter: „Das weiß ich nicht, aber ich habe mir es in den Kopf gesezt, ihn zu erhalten, und es wird geschehen, sollte ich in der Nacht länger arbeiten.“ Also sie selbst kann und wird sich den Wunsch erfüllen. Das Wie? ist ihr kein Geheimniß. Sie braucht auf kein Ungefähr, keinen Zufall, kein Wunder zu warten, sondern allein auf ihre Lust, ihr Belieben.
[Notes for §114 here]
§115 Weil das Geheimniß in keiner Weise und Gestalt Macht über sie gewinnen kann, drückt es sie auch nicht, wird es ihr auch nicht zu schwer auf dem Herzen, wenn ihr ein Freund etwas anvertraut. „Im Ernst, Herr Nachbar,“ spricht sie fest und entschlossen zu Rudolf, als derselbe sie bittet, ihm Germains Wohnung zu sagen, sie beschwört im eigenen Intresse Germains: „ich glaube, daß Sie Herrn Germain alles Gute wünschen, aber ich habe ihm das Versprechen geben müssen, seine Adresse Niemanden zu sagen. Ich habe es versprochen und werd es halten.“ Sie vertraut Germain wie sich selbst, darum findet sie, um sich so auszudrücken, in seinem Geheimniß nichts Geheimnißvolles. Es ist ihr nichts weiter als ihr Versprechen.
[Notes for §115 here]
§116 Das Budget der Lachtaube beweist, daß sie arm ist, dennoch unterstüßt sie die unglücklichen Morels mit ihrem Ersparten, theilt mit ihnen ihr einfaches Mahl, kürzt sich an ihrem einzigen Reichthum, der Zeit, um Louise und Germain im Gefängnisse zu besuchen. Aber weder macht sie ein Aufhebens von den großen Opfern, die sie bringt, noch schämt sie sich der verhältnißmäßig geringen Dienste, die sie ihren Freunden nur leisten kann. Sie schlägt, was sie thut, nicht höher und nicht geringer an, als was es ist: eine Wohlthat, die sie dem bedrängten Nächsten erzeigt, eine Freude, die sie sich selbst damit bereitet. Dabei läßt sie sich in der Art und Weise, wie sie zu Hülfe kommt, rein von ihrem menschlichen Gefühl leiten. Nicht unsichtbar wie ein Engel erscheint sie und spendet ihre Gabe, nein, sie leiht den Morels. „Es taugt nicht,“ denkt sie, „drei Frankenstücke müßig daliegen zu haben, wenn ehrliche Leute in der Nähe verhungern.“ Sie leiht ihnen das Geld. „Wenn ich sage, ich lieh ihnen das Geld,“ erklärt sie Rudolf, „so that ich dieß nur, um sie nicht zu kränken, denn ich hab es ihnen herzlich gern geschenkt.“ Ein Engel würde die Unwahrheit, und sei sie noch so klein, verschmähen. Sie aber, das arme Mädchen, will die armen Nachbarn nicht „kränken.“
[Notes for §116 here]
§117 Rudolf verspricht ihr darauf: „Sie werden Ihnen das Geld wieder erstatten, da sie jetzt in bessere Umstände gekommen sind.“ Darauf besinnt sie sich nicht lange zu antworten: „ich werde es auch nicht ausschlagen, denn es giebt doch einen Anfang zu den Vasen, die ich mir so sehr wünsche.“ Wie wenig schwer würde es dem Engel werden, einem so kindischen Wunsch zu entsagen, um sich mit dem geheimnißvollen Schein uneigennüßiger Mildthätigkeit zu umgeben.
[Notes for §117 here]
§118 Lachtaube aber ist an diesem Schein nichts gelegen. Sie ist klar und offen, durchaus menschlich.
[Notes for §118 here]
§119 Dadurch ist sie so lieblich, reizend, poetisch. In ihrem Charakter ist keine Falte, nichts Verstecktes, weder eine verborgene Tugend, noch ein übertünchter Fehler. Wie sie ist, so giebt sie sich; was sie ist, so scheint sie.
[Notes for §119 here]
§120 Mit der Darstellung eines Charakters wie Lachtaube ist unendlich viel gewonnen. Es ist unmöglich, sich der Freude zu verschließen, welche dieses Mädchen bei jedem Schritt, den sie thut, mit jedem Wort, das sie spricht, in uns erweckt. Wer wollte nun länger läugnen, daß es außer der romantischen Ueberschwänglichkeit noch eine Poesie geben könne!
[Notes for §120 here]

Der Weltzustand der Geheimnisse von Paris im Allgemeine

§121 Diese Welt der Geheimnisse ist nun der allgemeine Weltzustand, in welchen die individuelle Handlung der Geheimnisse von Paris versetzt ist, auf dem sie ruht, aus dem sie hervorgeht, über den hinaus sie sich entwickelt, den sie selbst umzugestalten strebt.
[Notes for §121 here]
§122 Ehe ich indeß zu der philosophischen Reproduction der epischen Begebenheit übergehe, habe ich an dieser Stelle die im Vorigen hingeworfenen einzelnen Umrisse zu einem Gesammtbilde zusammenzufassen.
[Notes for §122 here]
§123 Zunächst ergiebt sich aus meiner Darstellung, daß die einzelnen abgehandelten Geheimnisse ihren Werth nicht für sich, jedes abgetrennt vom andern haben, nicht als wären sie großartige Klatschneuigkeiten, bei deren Erzählung man ohne Zusammenhang aus dem Hundertsten in's Tausendste kommt; sondern darin, daß sie in sich eine organisch gegliederte Folge bilden, deren Totalität das Geheimniß überhaupt ist.
[Notes for §123 here]
§124 Zwar treten die Geheimnisse in unserm Epos nicht in dem Verhältnisse dieser von sich selbst wissenden Folge auf. Wir haben es aber auch nicht mit dem logischen, offendaliegenden freien Organismus der Kritik zu thun; sondern mit einem geheimnißvollen Pflanzendasein. Die Pflanze wiederholt ihren ganzen und vollständigen Organismus in jedem neuen Sprößling, den sie hervortreibt, wodurch es denn möglich wird, dieselbe nicht bloß aus dem Saamen, sondern auch durch Stecklinge zu ziehen. Die wesentlichen Bestandtheile, welche das Leben der Pflanze bedingen, finden sich in jedem Stiel, in jedem Blatt, nur in eigenthümlicher Vertheilung und mit dem sich geltendmachenden Uebergewicht eines oder des andern Bestandtheils, wodurch die besondere Bildung von Stiel und Blatt herbeigeführt wird, neu und vollständig vor. Aehnlich ist die Stellung der einzelnen Geheimnisse zu einander, der Geheimnisse, welche Stiele und Blätter Einer großen Wucherpflanze sind.
[Notes for §124 here]
§125 So ist das Verbrechen zugleich rechtlos: die Gesellschaft bestraft den Verbrecher, sie nimmt sich ihr Recht; aber das Recht, worauf er Anspruch machen kann, zu einem bessern Leben erzogen und gebildet zu werden, gewährt sie ihm nicht. Duldet sie doch fortwährend „Unwissenheit und Armuth,“ und diese „führen die arme Klasse zur entsetzlichen menschlichen und socialen Erniedrigung.“
[Notes for §125 here]
§126 Die Gesellschaft hat überhaupt keinen Glauben an die Möglichkeit, daß, wer jemals ein Verbrechen begangen, umkehren und einlenken könne.
[Notes for §126 here]
§127 Aus Melün, wo er wegen Taschendieberei eingesteckt gewesen, entlassen, faßt der Spitzige, der Geschichtenerzähler in la Force, den löblichen und festen Entschluß, sich durch Betreibung eines ehrlichen Handwerks ferner sein Brot zu erwerben. Es bleibt ihm indeß aus Ursachen nichts übrig, als in eine Bleiweißfabrik zu gehen, wo er die Qualen der Bleikolik und binnen wenigen Jahren den sichern Tod voraussieht. Welch ein Entschluß, im Angesicht von Schmerz und Tod doch ein ehrlicher Mann werden zu wollen, während er nur einen kleinen Diebstahl, wozu gar nicht einmal muthiges Bestehen von Gefahren erforderlich ist, zu begehen braucht, um von neuem im Gefängnisse eines sorgenfreien Lebens sich erfreuen zu können, eines Lebens in Gesellschaft mit Gleichgesinnten, wo ihm also nicht die Verachtung, welche draußen die böse That nach sich zieht, schneidend entgegentritt, er vielmehr durch besondre Rohheit oder das Talent des Erzählens rührender Geschichten, wie er es besitzt, sich in Ansehn setzen kann. — Also welch ein Entschluß! Und wie läßt die Gesellschaft ihm Gerechtigkeit widerfahren? Er kommt an dem Orte der Bleifabrik an. Aber dieselbe steht still, weil binnen wenigen Jahren alle Arbeiter ausgestorben sind. Nun sucht er bei allen Meistern nach Arbeit. Aber da heißt es: „will der ehemalige Sträfling fort! der Dieb! der Falschmünzer!“ Wo man ihn sieht, hält man sich die Taschen zu. Um nur nicht zu hungern, begiebt er sich auf den Weg nach Paris, weil er dort Arbeit zu finden hofft. Es ist kein Wunder, daß der reine Zufall einen Menschen, der sich in seinem besten Vornehmen verkannt und verdammt sieht, zum Diebe macht und in's Gefängniß zurückführt.
[Notes for §127 here]
§128 Das Verbrechen ist ferner die äußere verbrecherische That des individuellen, fleischlichen, unwissenden Menschen, des Menschen, der unter der Herrschaft seiner sinnlichen Triebe steht. Diese Seite repräsentirt namentlich der Schurimann. Früh als Schlächterbursche und Abdeckergehülfe ist's ihm schon ein materieller Genuß, zu tödten, und bereits nach seiner Umwandlung durch Rudolf erwacht diese Mordwuth noch einmal.
[Notes for §128 here]
§129 Das Verbrechen heuchelt auch. Es will sich den Schein teuflischer Rohheit geben, während doch der Funke der Menschlichkeit auch in der entartesten Natur noch lebendig ist und von ihr warm gefühlt wird. Die Aufseherin in St. Lazarus zieht daher aus einer langjährigen verständigen Beobachtung den Schluß, daß die gefangenen Mädchen im Allgemeinen weniger schlecht sind, als sie zu erscheinen sich bestreben.“ Und sie hat Recht mit diesem Schluß.
[Notes for §129 here]
§130 Denn z. B. ein unbändiges Geschöpf, die Wölfin genannt, so heftig, keck und bestialisch in ihrem Charakter, beleidigt die würdige Aufseherin frech vor allen Gefangenen; in der Einsamkeit des Schlafs und Traums aber rollen zwei große Thränentropfen über die Wangen dieses Mädchens mit der eisernen Stirne und sie fleht: Verzeihung! Verzeihung! Madam Armand! Am nächsten Tage unter ihren Gefährtinnen ist sie jedoch wieder roh und ungestüm gegen dieselbe Madam Armand. - Durch den unerklärlichen Einfluß der Marienblume wird späterhin die Wölfin mit ihrer ganzen Rotte gehindert, ein unglückliches schwangeres Mädchen länger grausam zu mißhandeln. In Folge dessen klagt sich die Wölfin der Feigheit an, und glaubt sich deshalb verachten zu müssen, da die Worte: „Tod den Feigen“ von ihrem Geliebten Martial mit rothglühender Nadel ihr auf den Arm geschrieben, sich wieder sie selbst kehren, wie sie meint. Sie ruft aus: „ich hätte die Mt. St. Jean erwürgen mögen, als sie sagte, Sie (Schließerin) wendeten uns vom Bösen zum Guten, denn sie hatte – zu unserer Schande – Recht.“ Schande nennt sie das. Schaudererregende Heuchelei des Verbrechens!
[Notes for §130 here]
§131 Das furchtbare Skelett in la Force rühmt sich: „ich würde einen Menschen für sechs Francs, für gar nichts, bloß der Ehre wegen ermorden. Man glaubt, ich hätte nur zwei Personen umgebracht, aber wenn die Todten reden könnten, würden fünf bestätigen können, wie ich arbeite.“ –
[Notes for §131 here]
§132 „Der Räuber schnitt auf,“ fährt Eugen Sue fort und fügt hinzu:
[Notes for §132 here]
§133 „Diese blutdürftigen Prahlereien sind einer der characteristischen Züge der verhärteten Verbrecher.“
[Notes for §133 here]
§134 „Ein Gefängnißdirector sagte aus: wenn die angeblichen Mordthaten, deren sich diese Unglücklichen rühmen, wirklich geschehen wären, würde der zehnte Mensch ermordert sein.“
[Notes for §134 here]
§135 Endlich muß das Verbrechen in sich selbst auch seine Ohnmacht erkennen, wodurch es nicht, wie es meint, Gott und die Geseze verhöhnt, sondern sich selbst zu einem Spott macht. Durch die That empören sich die Missethäter gegen göttliche und weltliche Ordnung; und dennoch fühlen die Gefangenen in St. Lazarus eine gewisse Scheu und Furcht bei dem Anblicke des Bildes der Jungfrau und der von ihnen selbst angefertigten Opfergaben. Die Gauner und Mörder, welche sich troßig auf ihren Unglauben und Rohheit verlassen und stützen, bedürfen doch des geweihten Zweigs in der Penne als eines geheimnißvollen Schirms und Talismans für ihre Erholungsstunden.
[Notes for §135 here]
§136 So wird die Heuchelei und Scheinheiligkeit Ferrands ebenfalls an sich selbst zum Spott. Er würde einen Andern in seinem Fall verlachen; viel weniger aber könnte es für ihn, wäre er nicht eben ein Hohn auf sich selbst geworden, eine so furchtbare Strafe sein, daß er am Ende seines Lebens allen seinen Scheinheiligkeiten die Krone aufsetzen und die erstrebte Frucht, köstlicher als er je hoffen durfte, gewinnen soll: mit dem Glorienschein zu sterben. Daß er jedoch dieser Strafe sich unterwirft, mag uns mit seinem scheußlichen Character versöhnen. Er beweist damit, daß er doch noch Mensch ist. Der Teufel schlug Rudolf ein Schnippchen, und machte ihn zum Werkzeug seiner Bosheit, während Ferrand umgekehrt mit seinem Geiz der Wohlthat, mit seinem Haß der Liebe, mit seinen satanischen Eigenschaften der Menschheit zu dienen sich gezwungen sieht. Zu gleicher Zeit geben sich auch darin die Heuchelei und Selbstverspottung des Verbrechens zu erkennen, daß die meisten Gefangenen seltsamer Weise und troß ihrer Verderbtheit fast immer die naiven Erzählungen lieben, in denen, nach den Gesetzen eines unerbittlichen Geschicks, der Unterdrückte nach zahllosen Prüfungen an seinem Tyrannen gerächt wird. „Man folge der Erzählung des Spitzigen „Gringalet und Schneidentzwei“ und beobachte mit welchen leidenschaftlichen Verwünschungen die Missethäter den Bösewicht verfolgen, mit welcher beifälligen Spannung sie die Befreiung des Opfers erwarten, und das in demselben Augenblick, wo sie einen blutigen Anschlag gegen einen Mitgefangenen Germain im Schilde führen.“
[Notes for §136 here]
§137 In der Selbstverspottung richtet das Geheimniß sich selber. Es vollendet und zertrümmert sich zugleich in seiner Vollendung. Ferrand fühlt sich grade dadurch so gänzlich vernichtet, daß seine Heuchelei, die Kunst und der Ruhm seines Lebens, sich über alle Erwartung selbst erreicht, daß er sich gezwungen sieht, „während er vor ohnmächtiger Wuth zittert, die gerechten Lobsprüche eines achtbaren Geistlichen zu verdienen, den er bis dahin getäuscht hatte.“
[Notes for §137 here]
§138 Damit fordern die Geheimnisse, welche, so ineinander wie außereinanderlebend, eine mächtige Giftpflanze alle unsere Zustände und Verhältnisse durchwachsen und überwuchern, selbst dem Fürsten sich um den Thron rankend und durch die Krone schlingend – Rudolf giebt seine Vernunft in die Hände eines Niederträchtigen, Polidori's, schenkt sein Herz einer Unwürdigen, Sahrah Seyton, hebt das Schwert gegen seinen Vater und muß seine todtgeglaubte Tochter, eine Fürstentochter! in Armuth, Erniedrigung und Schande wiederfinden damit sich selbst in ihrer lezten Consequenz vernichtend, fordern die Geheimnisse jeden kräftigen Character zur selbständigen Prüfung auf. Zu ihr mögen wir Selbstvertrauen und Muth gewinnen, da ein einfach Mädchen, Lachtaube, ohne großen Kraftaufwand, bloß ausgestattet mit der Macht ihres Naturels, glücklich voranschreitet, und heiter und frei athmet, wo sonst Allen die Brust beengt und der Kopf benommen ist.
[Notes for §138 here]

Die epische Begebenheit der Geheimnisse von Paris

§139 Der Weltzustand der Geheimnisse von Paris, als Epos betrachtet, ist eben das Geheimniß. Wohl richtet er sich selber und löst sich in sich selber auf. Aber daß mit ihm nicht auch zugleich die Welt untergehe, müssen Männer auftreten, die, was ihre Zeit unwissend und nur leidend über sich muß ergehen lassen, selbstthätig sich zur Buße auferlegen, Männer, welche, indem sie zerstörend in die Geheimnisse eindringen, zugleich das Gebäude lange gehegter Hoffnungen endlich nicht mehr auf den Sand bauen, sondern wirklich im Fundamente begründen. Dieß sind die Männer der rücksichtslosen Kritik.
[Notes for §139 here]
§140 Rudolf ist in unsrem Epos ein solcher Mann.
[Notes for §140 here]
§141 Seine active Büßung ist der Kern der individuellen epischen Handlung der Geheimnisse von Paris. Er, der Fürst von Gerolstein, ist ihr Träger und erster Diener, der erste Diener des Staats der Menschheit.
[Notes for §141 here]
§142 Rudolf würde indessen zu einer bloßen Idee ohne die Wirklichkeit und das Charactervolle der Persönlichkeit verblassen oder sich an jener allgemeinen Büßung nicht wahrhaft betheiligen können, wenn er nicht persönlich eine schwere Schuld abzutragen hätte. Dieß ist die wichtige Bedeutung des 13. Jannar, an welchem Tage Rudolf das Schwert gegen seinen Vater gezogen.
[Notes for §142 here]
§143 Der Vater ruht bereits in seiner Fürstengruft, Rudolf ist ihm auf den Thron gefolgt, die Erinnerung an die verbrecherische That aber will nicht zur Ruhe gehen. An sie knüpft sich das Dasein eines Kindes, von dessen unwürdiger Mutter, der nachherigen Gräfin Mac Gregor, Rudolf die Schuld seines Lebens zugewälzt bekommen hat. Rudolf bekommt die Nachricht von dem Tode seines Kindes, und die Vermuthung, daß es von solch einer Mutter verwahrlost worden sein möge, senkt einen neuen Stachel in sein Herz, der die alte Wunde, die Wunde des 13. Januar wieder aufreißt. Rudolf begründet aus Furcht das Glück seiner Unterthanen; den 13. Januar vermag der Sohn nicht aus seinem Gedächtnisse auszulöschen. Rudolfs treuster Lehrer, aufrichtigster Freund, hingebenster Diener, Murph, ist zugleich der Zeuge jener unseeligen That des 13. Januar, ist derjenige, welcher den Arm in seiner vatermörderischen Absicht aufgehalten.
[Notes for §143 here]

Murph

§144 Aber Murph ist zugleich die verewigte Schuld des 13. Januar und die ewige Tilgung dieser Schuld durch unvergleichliche Liebe und Aufopferung für die Person Rudolfs.
[Notes for §144 here]
§145 In dem wahren Freunde findet der Freund sich selber wieder. Dieß in der reichsten und edelsten Bedeutung giebt Murph seinen Werth. Die edle Einfachheit, Kräftigung und Sicherheit, deren Rudolf fähig ist, die er jedoch in jener Liebe zu Sarah unbewußt verloren hat, bis endlich am 13. Januar der Bruch entschieden hervortrat, diese Quellen seiner Natur, dieses Ziel seines Lebens sind ihm rein und ungetrübt in Murph erhalten.
[Notes for §145 here]
§146 Murph ist die Hingebung selbst für Rudolf, weil er ihm dienend seine Kräfte der Menschheit widmet. Murph weiht sich der Menschheit, weil er erst Rudolfs Erzieher, dann Rudolfs Freund ist. Rudolf und das Heil der Menschheit, Rudolf und die Verwirklichung der Wesensvollkommenheit des Menschen ist für Murph eine untrennbare Einheit, eine Einheit, der er sich nicht mit der dummen hündischen Ergebenheit des Sclaven hingiebt, sondern wissend und selbstständig.
[Notes for §146 here]
§147 Murph ist daher auch der Vertraute Rudolfs und eingeweiht in den Plan jeder Unternehmung, während der Baron Graun und alle übrigen in Rudolfs Begleitung mehr oder weniger bloße Werkzeuge sind.
[Notes for §147 here]
§148 Wo Rudolf nach einer oder der andern Seite von dem Mittelpunkte, in welchem er für Murph steht, abirren will, da wacht Murph über ihm oder widerseßt sich ihm. Darum folgt er, als Kohlenträger verkleidet, Rudolf wider dessen Willen bis vor die Penne zum weißen Kaninchen, weil er ihn unter Gaunern, Dieben und Mördern gefährdet glaubt. Darum kann Murph es auch wagen, seinem Gebieter Vorwürfe zu machen, als sei der Aufenthalt in den Höhlen des Verbrechens seiner (Rudolfs) nicht würdig. - Als Rudolph, gereizt durch den Widerspruch, wiederum mit der ganzen Heftigkeit seines Temperaments auch gegen Murph ausbrechen will, wie einst gegen den Vater, da scheut sich der treue Freund nicht, ihn an den 13. Januar zu erinnern, obgleich er wohl weiß, welch ungeheuren Schmerz er hervorrufen wird.
[Notes for §148 here]
§149 Murph schüßt und hütet Rudolf vor jeder Art der Selbstvergessenheit, gleicherweise vor der Hintansetzung des individuellen Selbst, deren Rudolfs edle Natur fähig ist, wie vor der Verläugnung der Aufgabe seines Lebens, zu der Rudolfs zornmüthiger Character sich hinreissen läßt.
[Notes for §149 here]
§150 Murph ist das vollständige Gegenstück zu Lachtaube. Lachtaube ist die freie und selbstzufriedene Offenheit selbst; Murph dient Rudolf, daß derselbe mit sich klar und rein in seinem Innern werde. Lachtaube hat kein Geheimniß, Murph duldet keins. Als der Lehrer Rudolfs entwickelt er die verborgenen Keime seiner herrlichen Natur, daß sie später an Geist und Körper offenbar werden sollen. Als Freund Rudolfs widmet er sich mit Leib und Seele der Büßung desselben, daß sie aus einem geheimen verzehrenden Kummer beglückende That werde.
[Notes for §150 here]
§151 Lachtaube steht auf der äußersten Gränze der Geheimnisse. Sie ist sich selbst ihres hohen sittlichen Werths nicht bewußt; darum ist sie sich selbst noch Geheimniß. Murph ist vollkommen mit sich im Reinen über das, was er erstrebt. Aber noch ist ihm bloß Rudolf, als der die Aufgabe seiner persönlichen Buße Lösende, der allein Fähige, alle Räthsel der Welt zu lösen. Murph hebt zwar den Schleier von den Geheimnissen, aber nur um Rudolfs willen. Er hilft zwar an der Arbeit, die Macht der Geheimnisse zu zerstören, aber er hat doch die unerschütterliche Ueberzeugung nicht, daß dieser Kampf noth thue und gelingen könne. Er kann noch glauben, daß es für seinen Gebieter und Freund Rudolf, den souverainen Fürsten, ein unwürdiges Beginnen sei, sich unter Verbrecher zu mischen.
[Notes for §151 here]
§152 Lachtaube und Murph reichen sich also gleichsam die Hände. Sie heiter aus dem düstern Hintergrunde der Geheimnisse heraus, er, seine Kräfte einem wohlthätigen, weltumgestaltenden Handeln widmend, selbstbewußt einen Strudel von Begebenheiten beherrschend, ernst, fast trüb in die dunkle Region der Geheimnisse hinein, die ihm Räthsel und Wolken bleiben, obgleich er die Nebel so oft zerreißen hilft.
[Notes for §152 here]

Rudolf - das enthüllte Geheimniß aller Geheimnisse

§153 Rudolf hat das Schwert gegen seinen Vater erhoben.
[Notes for §153 here]
§154 Zur Buße der Schuld, die er dadurch auf sich geladen hat, unternimmt er eine große Reise, und hat sich ungefähr dieselbe Aufgabe gestellt, als der erneuerte Schwanenorden, nämlich physische und moralische Leiden zu lindern, „wo er sie findet“.
[Notes for §154 here]
§155 So unendlich werthvoll und folgenreich diese Idee des Schwanenordens ist, so erscheint sie doch in Verbindung mit Rudolfs Schuld gebracht, wie ein ganz unlogischer launenhafter Einfall Eines, der freilich die Macht zu solchen Einfällen hat. Es ist nicht einzusehen, wie die Versündigung gegen den Hochseeligen Vater an elenden Bettlern und Wilden wieder gut gemacht werden könne. Außerdem entzieht Rudolf durch diese Reise seinem Lande die Gegenwart des Souverains und giebt es der jedenfalls nicht wünschenswerthen Lage unter einer längeren Regentschaft Preis.
[Notes for §155 here]
§156 Es gilt hier ein vorurtheilsfreies Eingehen in Rudolfs Character, auf die Art seiner Schuld, den Gedanken seiner Büßung.
[Notes for §156 here]
§157 Rudolf will, wie er persönlich an der Person seines Vaters sich vergangen, dadurch sühnen, daß er sich zum Wohlthäter der menschlichen Gesellschaft macht.
[Notes for §157 here]
§158 Soll nun ein so unverhältnißmäßig großes Werk aus vergleichsweise so geringem Anfang und Anlaß hervorgehen können? Es ist ja die im Zorne erhobene Hand nicht einmal niedergefallen auf das theure Haupt des Vaters. Die That, welche, wenn geschehen, Rudolfs Leben auf seine ganze Dauer und bis in's Grab hinein hätte erbittern müssen, ist ja nicht vollbracht worden. Zur rechten Zeit schickte ein günstiges Schicksal den Freund herbei, den Arm aufzuhalten, die That ungeschehen zu machen.
[Notes for §158 here]
§159 Hier haben wir den Schlüssel gefunden: Die Dazwischenkunft Murphs. Daß Rudolf durch die Gunst des Geschicks nicht wirklich zum Vatermörder geworden, dieß ist die Quelle zu dem Strom seiner Buße.
[Notes for §159 here]
§160 Wodurch hat er diese unendliche Gunst verdient? Diese ungerechte Gunst! Ist er nicht so wie so schon überschüttet vom Glück? Durch die Geburt an einen Platz gestellt, der ihm einst die höchste irdische Macht die souveräne Macht eines Fürsten zu Füßen legen wird, stehen ihm alle materiellen und geistigen Schäße zu Gebote. Daneben sieht er den in Armuth und Niedrigkeit Gebornen, der um sein Leben zu fristen Herz und Geist vernachlässigen, in Arbeit verkrüppeln muß, von der Noth zum Verbrechen getrieben wird. Wodurch hat er den ungeheuren Abstand verdient? Hat er ihn verdient durch die würdige Anwendung des Vorzuges seiner Geburt? - Er hat von einem treuen Lehrer sich losgesagt, ist den Unterweisungen eines Schändlichen gefolgt, hat sein Herz an eine Herz- und Gewissenlose gehangen, den tödtlichen Stoß gegen den Vater geführt. - Der Mörder sollte mit dem Mörder das gleiche Loos auf dem Schaffott zu erwarten haben, Rudolf aber, der vom Schicksal durch Bildung, durch klare Vorstellung von Recht und Unrecht Bevorzugte, Mörder aus bloßer zornmüthiger Leidenschaft unvergleichlich härtere Strafe als der Mörder aus Hunger und Verzweiflung.
[Notes for §160 here]
§161 Aber o des Uebermaaßes von Glück, das ihn überhäuft! Rudolf wird bei der gleichen, der strafwürdigern Absicht doch nicht zum wirklichen Mörder. Nicht daß er selbst noch zur Besinnung gekommen wäre, nein, die Gunst des Geschicks sendete zur rechten Zeit den Freund.
[Notes for §161 here]
§162 Was Rudolf niederbeugt und zu erdrücken droht, ist die ungeheure ungerechte Gunst des Schicksals. Die verhinderte That gerade wächst zu einer riesenmäßigen Schuld für ihn an, die er abzutragen sich unwiderstehlich gezwungen fühlt.
[Notes for §162 here]
§163 Gepreßt von dem Bewußtsein dieser Schuld, beengt von dem unverdienten Vorzug faßt Rudolf den Gedanken reiner Kritik. Und dieser Gedanke ist fruchtbringender für ihn und die Menschheit als alle Erfahrungen, welche diese in ihrer Geschichte gemacht, als alles Wissen, das Rudolf aus dieser Geschichte, geleitet selbst von dem treusten Lehrer, sich hat aneignen können.
[Notes for §163 here]
§164 Die Macht der Kritik ist es, welche Rudolf hinaustreibt, ihm die Aufgabe stellend, „das Gute zu belohnen, das Böse zu verfolgen, die Leidenden zu unterstützen und alle Wunden zu untersuchen, um vielleicht einige Seelen dem Verderben zu entreißen.“
[Notes for §164 here]
§165 Die Macht der Kritik stattet ihn mit dem ernsten, unerschütterlichen Willen aus, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie läßt ihn die Trägheit und Bequemlichkeit abschütteln, welche sonst dem Individuum anhaftet; läßt ihn den Reichthum von Kräften, welche die menschliche Natur in sich selber besitzt, entdecken und entwickeln; läßt ihn seine Bestimmung erreichen.
[Notes for §165 here]
§166 Die Macht der Kritik giebt ihm den Muth, alle Vorurtheile von sich zu werfen, den Muth, seinen fürstlichen Fuß in die Pennen und Dachstuben zu setzen, vor der Berührung mit dem Verbrechen und Elend nicht zurückzuschaudern, den Muth, unbefangenen sittlichen Umgang mit einer Grisette zu pflegen. Ihr ist er der heitere gefühlvolle Nachbar. Den Pipilets ist er „der König der Miether“, den Morels ist er der bescheidene Commis, welcher im Auftrage einer menschenfreundlichen Dame handelt. Auf dem Ball bei dem Gesandten ist er Fürst. Der Marquise von Harville ist er zugleich rückhaltloser und doch rücksichtsvoller Freund: er giebt sie sich selber zurück; er trägt ihr seine Hand an; er entsagt ihr; er sucht als Gatte Trost bei ihr. Dem Schulmeister und Jacob Ferrand ist er der furchtbare Engel der Rache. Der Marienblume ist er liebender Vater schon ehe er weiß, daß er ihr leiblicher Vater ist... Aber wer wollte es unternehmen in wenig Worten die Reichhaltigkeit zusammenzufässen, zu welcher Rudolfs Charakter, nachdem er seinen Mittelpunkt einmal gefunden, bei seinen unendlich vielen und verschiedenartigen Berührungen sich auseinanderlegt.
[Notes for §166 here]
§167 Wenn Rudolf dabei die mannichfaltigsten Rollen übernimmt, so sind das nicht seiner unwürdige Maskeraden; im Gegentheil legt er nur die große Maske, die das Schicksal durch die Geburt ihm aufgedrungen, ab, um ungehindert in allen Lagen und Verhältnissen den reinen Menschen herauskehren zu können.
[Notes for §167 here]
§168 Wer fähig ist, sich ernstlich die Aufgabe zu stellen: „alle Wunden zu untersuchen“ hat mit diesem Willen zugleich auch den Muth und die Kraft gewonnen, alle Wunden zu sehen. Nicht auf seinem erhabenen Standpunkt bleibt Rudolf stehen, weil er weiß, daß von ihm aus gesehen, die Welt sich in wunderlicher Perspective darstellt. Er scheut die Mühe nicht, die Standpunkte rechts und links, den oben, den in der Tiefe aus freier Wahl einzunehmen, daß er die Welt ganz kennen lernend, dadurch auch zum ganzen Menschen sich entwickle. Wer sich festrammen läßt in den engen Kreis, in den ihn der Zufall gestellt, einkeilen in den schmalen Spalt seines Berufs und Verhältnisses, der bleibt sein Leben lang nichts als ein Stück, ein Bruchtheil desjenigen, wozu die Natur ihn bestimmte, indem sie ihn aus dem Schooße eines Weibes hervorgehen ließ.
[Notes for §168 here]
§169 Die Macht der Kritik lehrt Rudolf den ungeheuren Besitz an materiellen und moralischen Gütern, in den er durch das Glück seiner Geburt ohne eigne Müh und Arbeit gesezt worden ist, nicht als ein Recht, sondern als eine Gnade des Schicksals ansehen, lehrt ihn, sich dadurch der Menschheit verschuldet und verpflichtet zu wissen, lehrt ihn endlich zugleich, das Geheimniß entdecken, das Geheimniß aller Geheimnisse, ein würdiges Ziel sich zu stecken und dasselbe zu erreichen.
[Notes for §169 here]
§170 Zwar führt uns der Dichter nicht gradezu an den Anfangspunkt und Quell, aus welchem sich Rudolfs segensreiche Handlungen über die Gesellschaft ergießen. Er hätte es thun sollen, um dem trägen und schläfrigen Leser nicht die Ausrede zu lassen, er habe ein höchst interessantes aber unerreichbares Ideal aufgestellt. Unerreichbar sind für den weniger vom Geschick Begünstigten Rudolfs Resultate, nicht unerreichbar das schöne Ziel, welches vor dem Auge, das durch die gereinigte Athmosphäre klar zu sehen im Stande ist, sich selbst aufrichten wird. Die Kraft, vermöge der er aufgeräumt, wird sich durch diese einfache Arbeit in Jedermann bis in's Ungeahnte steigern, durch sie wird er einen unvergleichlich höhern Werth gewinnen, als bliebe er Lebenslang der Bruchtheil von Geburt, das Stück in seiner einseitigen Stellung - dennoch geht aus dem Ganzen wie aus jedem Theil der Geheimnisse von Paris hervor, wie Eugen Sue sein Epos und daher auch namentlich den Hauptcharakter desselben auf die Weltanschauung basirt hat, deren erste Bedingung freie Prüfung des Bestehenden und besonnenes Urtheil über dasselbe ist. Außerdem sind der Stellen, mit denen er die Erzählung unterbricht, Episoden einleitet und schließt, sehr viele und alle sind Kritik.
[Notes for §170 here]
§171 Will man sich indessen ihrer nicht erinnern und mich beschuldigen, als phantasire ich in des Dichters Werk hinein und auf seine Kosten, so führt es doch schon meine Aufgabe überhaupt mit sich, daß ich nunmehr an Beispielen zeige, wie Rudolf diese Kritik an Andern übt und damit unzweifelhaft auf die gründliche Selbstkritik zurückweist, die ihren Resultaten voraufgegangen sein muß. Das unparteische Gericht, mit welchem Rudolf seinen Weltgang verewigt, ist in der That nichts Andres als
[Notes for §171 here]
§172 Die Enthüllung der Geheimnisse der Gesellschaft.
[Notes for §172 here]

Der Schurimann

§173 Rudolf ist nicht zu vornehm und edel, um in die Geheimnisse des Volks einzudringen, nicht zu rücksichtsvoll und befangen, um für die Geheimnisse der gebildeten Gesellschaft blind zu sein.
[Notes for §173 here]
§174 Der Erste, welchem Rudolf auf seinem Weltgange, da wo uns der Dichter mit demselben bekannt macht, begegnet, ist der Schurimann, wie er ein unglückliches, hübsches Mädchen roh mißhandelt. Rudolf tritt dazwischen und überwindet den Schurimann, indem er ihm einen Hagel von Faustschlägen auf das Haupt regnen lässet.
[Notes for §174 here]
§175 Der Mörder, nächst dem Schulmeister selbst unter Seinesgleichen der Gefürchtetste, weit entfernt durch die Püffe seines Besiegers zu größerer Erbitterung gereizt zu werden, unterwirft sich ihm vielmehr ohne Groll, ja mit Ehrfurcht vor diesen ganz ungewöhnlichen Püffen auf's Haupt.
[Notes for §175 here]
§176 In diesem Wilden, dem einst bei dem Schlachten eines Viehes nicht der entfernteste Gedanke an Mord- und Todesqual beifiel, der dabei allein ein ganz materielles Bedürfniß mit einer Art fleischlichen Lust befriedigte, in dem Schurimann sind die moralischen Eigenschaften noch so wenig aus ihrer leiblichen Hülle entwickelt, haben sich aus ihrer Naturbasis noch so wenig zur Selbständigkeit herausgearbeitet, daß der betäubende physische Schlag, welchen der Schurimann von Rudolf auf's Haupt bekömmt, zugleich zu einem electrischen Schlage wird, der den Wilden dem Austheiler solcher Püffe auch moralisch unterwirft. Von dem Augenblicke ab erkennt der Schurimann Rudolf als seinen Herrn und Meister an und giebt sich ihm zu eigen.
[Notes for §176 here]
§177 Bei der Erzählung der Schluchzerin blitzt aus der bloßen sinnlichen Natur des Schurimanns schon der natürliche edle Unwille gegen die abscheuliche Eule auf. Aus seiner eigenen Erzählung geht dann hervor, daß diese in so furchtbarem Grade bloß sinnlichen, körperlichen Kräfte und Fähigkeiten doch selbst schon durch und durch moralische Mächte sind: er, der einen Mord begangen hat, verabscheut Diebstahl und Raub als seiner Natur gänzlich zuwider. Der Schurimann ist längst ein moralisches Wesen, er weiß es nur nicht; die Gemeinschaft mit Gaunern, Dieben und Raubmördern, die er selbst verachtet und unter die er doch hinausgestoßen ist, ruft ihm vielmehr jeden Augenblick in's Gedächtniß zurück, daß er nicht eins jener gesitteten, ehrenvollen Wesen ist, welche ihn in ihrer Gesellschaft nicht dulden.
[Notes for §177 here]
§178 Rudolf aber prüft, erkennt und spricht zu ihm: „Du hast noch ein Herz und Ehrgefühl!“ sagt Rudolf, sein Meister, von dem er die Püffe auf den Kopf erhalten hat, an die er nur mit einem Gefühl zurückdenken kann, in welchem Bewunderung, Furcht und Achtung in einander fließen. Nun so muß es auch eine unumstößliche Wahrheit sein. Weil Rudolf zu ihm gesagt hat: Du hast ein Herz und Ehrgefühl, darum hat er nun auch Herz und Ehre im Leibe. Er glaubt daran; er weiß sich ein moralisches Wesen und ist darum ferner ein moralisches Wesen. Dieß bekundet sein ganzes neues Leben bis zu seinem Tode, bezeugt es auf rührende, aufopfernde heroische Weise, ja zuleht mit vollkommenem Selbstbewußtsein seines Werths.
[Notes for §178 here]
§179 Welch ein Verdienst erwirbt sich Rudolf damit, den Schurimann der Menschheit zurückgegeben zu haben.
[Notes for §179 here]

Der Schulmeister

§180 Wenn Rudolf indessen dem Schurimann zuruft: „Du hast noch ein Herz und Ehrgefühl!“ so blendet er andrerseits den Schulmeister.
[Notes for §180 here]
§181 Der Schulmeister hat einst der gebildeten Gesellschaft angehört, er weiß also, daß er in diesem individuellen leiblichen Dasein ein allgemeines, der Menschheit angehörendes Wesen ist. Aber er läugnet es durch seinen ganzen fündhaften verbrecherischen Wandel. Er hat sich von seinem besseren Selbst und der menschlichen Gesellschaft gewaltsam losgerissen.
[Notes for §181 here]
§182 Wodurch er zunächst mit der Menschheit zusammenhängt, die Bande an Weib und Kind sind für ihn ohne bindende Kraft, er braucht sie also gar nicht einmal zu lösen, sie sind ihm vom Hause aus keine Brücke zur Besserung und Vervollkommung gewesen, haben ihm vielmehr nur dazu gedient, jene unglücklichen Wesen grausam an sich zu schmieden, daß er ihr Vermögen vergeuden könne, sie zu seinem Vortheil Betrug und Diebstahl begehen mögen, wie er von seinem Sohne - Franz Germain - verlangt. Mit allen übrigen Menschen ist er nicht durch ein liebevolles, menschliches Herz verbunden, sondern dadurch, daß er sie zum Spielzeug seines habsüchtigen Willens gebrauchen, sie zertrümmern und morden kann, um sie zu berauben. Von den Kräften der menschlichen Natur in seinem eigenen Kopf und Busen hat er sich daher gleichfalls entfremdet, er ist nicht mehr mit ihnen Eins, er fühlt sich nicht ohne sie Nichts, sondern sein individuelles, fleischliches Dasein ist Herr über sie; Vernunft und Wille sind des Körpers Sklaven, er braucht sie zur Erfindung und Ausführung seiner verruchten Anschläge. Ja die Consequenz der gänzlichen Loßreißung des rein sinnlichen, vergänglichen, genußsüchtigen, egoistischen Daseins von dem allgemeinen, ewigen, entsagenden Wesen treibt ihn sogar zur Inconsequenz, nämlich diesen Leib, seinen König, für den er gemordet und geraubt, für den er Menschen und Menschheit geopfert hat, zu verstümmeln.
[Notes for §182 here]
§183 Dieser Mann ist in Rudolfs Hände geliefert. Seiner Aufgabe nach hat er denselben zu strafen.
[Notes for §183 here]
§184 Die Strafe aber trifft mich nur vernichtend, wenn ich ihre Gerechtigkeit einsehe, wenn diese Einsicht so mächtig in mir wird, daß ich mich in ihrem Gefolge selbst verurtheile. Die Bestrafung kann also nichts sein, als das Mittel, nicht etwa bloß unschädlich zu machen und abzuschrecken, sondern zuerst den Verbrecher zum Richter über sein Verbrechen zu erheben.
[Notes for §184 here]
§185 Einem Menschen wie dem Schulmeister ist daher die Aufgabe der Strafe zu zeigen und zu beweisen, daß es ihm doch noch nicht gelungen ist, sich von dem Wesen des Menschen gänzlich zu trennen, daß die allgemeinen, geistigen, unsichtbaren Mächte seiner Natur auch noch Macht über ihn haben. Das Gesez übt dagegen nur Wiedervergeltung aus; es bestraft den physischen Mord mit dem physischen Tode. Der Mörder empört sich zuleht noch gegen die Feigheit der menschlichen Gesellschaft, welche Alle gegen ihn Einen in die Schranken tritt und ihn dann freilich bezwingt. Zur Ueberzeugung des Uebergewichts des moralischen Wesens kommt er nicht, weil er dasselbe in seinem eignen Innern nicht mehr fühlt.
[Notes for §185 here]
§186 Rudolf ruft nun in den Schulmeister das Bewußtsein zurück, daß es so in ihm selber wie außer ihm noch eine höhere Macht über seinem individuellen, boshaften, egoistischen Willen giebt; er zieht diese Macht aus den Geheimnissen hervor, unter das sie der Schulmeister lebendig begraben hatte und zwar, indem er ihn blenden lässet und ihm zugleich ein kleines Vermögen schenkt, so daß ihm ein sorgenfreies Leben gesichert sein kann. Siehe da! plötzlich empfindet der Schulmeister auf's Schmerzlichste, nicht ein körperliches Weh, nein, denn er glaubt nicht einmal, als man ihm sagt, er sei des Lichts seiner Augen beraubt, so schnell und so wenig schmerzhaft ist die grausame Operation an ihm vorsichgegangen, also nicht ein körperliches Leid empfindet er, sondern den Mangel alles moralischen Halts, den zu zerstören sein ganzes Leben sich's hat angelegen sein lassen: Wem soll er sich anvertrauen, da er sich auf sich selbst nicht mehr verlassen kann? Man wird ihn berauben, ist sein erster Gedanke.
[Notes for §186 here]
§187 Da beweist ihm der Schurimann, sich seiner annehmend, daß es ihm (dem Schulmeister) nur gelungen ist, sich selbst zu entmenschen, nicht aber menschliches Gefühl überhaupt zu ertödten. Und der furchtbare Schulmeister ist überzeugt, er erkennt plötzlich die Macht der Ehrlichkeit und Redlichkeit an, er sagt zum Schurimann: Ja. Dir kann ich vertrauen, Du hast niemals gestohlen. Weiter zum Bewußtsein kommt er durch seinen schrecklichen Traum, daß sein besseres Theil in ihm wach und lebendig ist. Ihm gegenüber muß er empfinden, daß seine ungeheuren Leibeskräfte machtlos und nichtig sind. Darum geht in Erfüllung, was ihm Rudolf vorhergesagt hat: „Du wirst vor dem Schwächsten zittern!“ Er zittert vor einem Weibe, der Eule; er zittert vor einem Kinde, dem kleinen Lahmen.
[Notes for §187 here]
§188 Trotzdem kann mit dem Schulmeister nicht eine so schnelle und glückliche Umwandlung geschehen als mit dem Schurimann. Was bei diesem ein herrliches Erwachen und Erblühen ist, ist bei jenem erzwungene Anerkennung, gegen die er fortfährt sich zu sträuben.
[Notes for §188 here]

Ferrand

§189 Ferrand stammte aus der großen Familie der Geizigen. „Unerhört aber ist es, daß ein Geiziger, um sein Vermögen zu vergrößern, bis zum Verbrechen, zum Morde gegangen sei. Der Geizige ist schwach, schüchtern, schlau, mißtrauisch, hauptsächlich klug und vorsichtig, niemals verlegend, gleichgültig gegen die Leiden seines Nächsten, aber er veranlaßt diese nicht.“ „Das Wort wagen findet sich in dem Wörterbuche des Geizigen gar nicht.“
[Notes for §189 here]
§190 „In diesem Sinne war Jacob Ferrand eine merkwürdige Ausnahme, denn Jacob Ferrand wagte und wagte viel.“
[Notes for §190 here]
§191 „Er rechnete auf seine Heuchelei.“
[Notes for §191 here]
§192 Der Doppelhülle Frömmigkeit und Rechtschaffenheit – mit welcher der Notar sich umgeben, entspricht also ein Doppelkern: Er ist nicht allein lasterhaft und leidenschaftlich, d. h. geizig und wollüstig, sondern er scheut auch kein Verbrechen, um seine Geldgier und seinen Geschlechtstrieb befriedigen zu können.
[Notes for §192 here]
§193 Er ist Verbrecher an Louise Morel und geräth dadurch ungeahnt in Rudolfs Hände.
[Notes for §193 here]
§194 Rudolfs Aufgabe ist es, ihn zum Geständniß zu zwingen, d. h. seinen Kern nach außen zu kehren. Er thut's, indem er die Hülle in's Innere drängt, d. h. den Ferrand, wie er scheint, und den Ferrand, was er ist, Beide miteinander in Kampf bringt und so sich selbst richten läßt.
[Notes for §194 here]
§195 Er bringt Ferrand in Berührung mit Cecily, welche zu jenen für die Europäer fast tödtlichen farbigen Mädchen, „zu jenen zauberischen Vampyren gehört, welche ihr Opfer mit schrecklicher Wonne berauschen, ihm den lezten Tropfen Geld und Blut aussaugen und ihm nur seine Thränen zum Tranke, sein Herz zum Nagen übrig lassen.“
[Notes for §195 here]
§196 „Höre mich an,“ sagt Ferrand zu Cecily, „höre mich an; wenn ich meine Ehre, mein Vermögen, mein Leben hier, sogleich, in deine Hand legte, würdest du dann glauben, daß ich dich liebe? Wenn ich dir ein Geheimniß mittheilte, das mich auf das Schaffot bringen kann, würdest du dann mein sein?“ - Meine Sittenstrenge – Lüge! Meine Rechtschaffenheit – Lüge! Meine Frömmigkeit – Lüge! Willst Du meinen Kopf für deine Liebkosungen?“
[Notes for §196 here]
§197 Rudolf hat's erreicht: Ferrand will nur scheinen, was er ist.
[Notes for §197 here]
§198 Nein, sagt Rudolf, du sollst nicht scheinen, was du bist. Das sei deine Strafe.
[Notes for §198 here]
§199 Ferrand ist krank und elend. Fast fortwährend schüttelte ihn ein nervöses Zittern, das sich bisweilen bis zu krampfhaften Zuckungen steigerte; seine fleischlosen Hände waren heiß und trocken; seine großen grünen Brillengläser verhüllten seine mit Blut unterlaufene Augen, aus denen das unheimliche Feuer eines verzehrenden Fiebers glänzte.
[Notes for §199 here]
§200 Ferrand aber antwortet dem theilnehmenden Abbe: „Ich gebe ihnen die Versicherung, daß mein Zustand nicht so beunruhigend ist, als Sie glauben.“
[Notes for §200 here]
§201 Ferrand haßt seinen Mitschuldigen schon als Mitschuldigen. Er betrachtet es als seinen größten Fehler, daß er ihn überhaupt haben muß. Nun ist er gar sein Henker. Diesen muß er seinen „Freund“ nennen.
[Notes for §201 here]
§202 Denen, die er ruinirt, die er moralisch gemordet, muß er vergüten und dabei mit seinen Wohlthaten „heuchlerisch“ sein, muß von einer „unbekannten Person“ sprechen, ihr den Ruhm seiner guten That zuwenden.
[Notes for §202 here]
§203 Kurz, „Rudolf foltert den Wollüftigen durch die Wollust, den Habsüchtigen durch die Habsucht, den Heuchler durch die Heuchelei.“
[Notes for §203 here]
§204 Rudolf bringt es einfach dahin, daß Polidori mit den Worten: „Ich wage es in Gegenwart des Herrn Abbe auszusprechen, du bist dein eigener Henker, armer Freund!“ die reine Wahrheit sagt.
[Notes for §204 here]

Louise Morel

§205 Rudolf steht, nachdem das Geständniß der Louise Morel ihren Vater wahnsinnig gemacht hat, in bittre Gedanken vertieft:
[Notes for §205 here]
§206 „Nichts ist häufiger als die Verführung, zu der die Magd durch ihren Herrn mit größerer oder geringerer Gewalt gezwungen wird, bald durch Schrecken, bald durch Ueberraschung, bald durch die Art der Verhältnisse selbst, welche durch das Dienen herbeigeführt werden.
[Notes for §206 here]
§207 „Diese Sittenverderbniß auf Befehl, die von dem Reichen zu dem Armen herabsteigt und die schüßende Unverleßlichkeit des häuslichen Heerdes mißachtet, dieses Sittenverderben, das selbst immer beklagenswerth ist, wenn freiwillig darauf eingegangen wird, erscheint entseßlich, wenn es erzwungen wird.
[Notes for §207 here]
§208 „Welche Folgen für das Weib! Fast immer die Erniedrigung, das Elend, die Prostitution, der Diebstahl, bisweilen der Kindesmord!
[Notes for §208 here]
§209 „Und dafür haben die Geseze nicht gesorgt. Jeder Mitschuldige an einem Verbrechen trägt die Strafe dieses Verbrechens; der Hehler wird dem Diebe gleich geachtet und mit Recht; wenn aber ein Mann aus Uebermuth, im Müßiggang ein junges unschuldiges reines Mädchen verführt, sie zur Mutter macht, sie in die Schande, in das Unglück, in die Verzweiflung verstößt, sie wohl gar zum Kindesmorde treibt, zu einem Verbrechen, für das sie mit ihrem Kopf büßen muß, wird er als ihr Mitschuldiger angesehen? O nein. Was ist es denn auch? Nichts, weniger als nichts, eine Liebelei, ein kurzes Wohlgefallen an einem hübschen Mädchen, das sich morgen einem Andern zuwendet. - „Der Mann ist vollkommen in seinem Rechte,“ wenn er sagt: „es existirt kein Gefeß, das einem Manne verbietet, eine Blondine zur Mutter zu machen und sie dann für eine Brünette zu verlassen. Ich habe nur ein unveräußerliches Recht benußt, das die Gesellschaft dem Manne zuerkennt.“
[Notes for §209 here]
§210 Dies denkt Rudolf. Und nun haltet diese Gedanken gegen eure Phantastereien von Emanzipation des Weibes.
[Notes for §210 here]
§211 Die That dieser Emanzipation ist aus ihnen fast mit Händen zu greifen, während ihr von Hause aus viel zu practisch seid und daher mit euren bloßen Versuchen so vielfach verunglückt.
[Notes for §211 here]
§212 Rudolf dagegen versucht nicht, sondern, tritt sein Gedanke in's Leben ein, so ist es eine glückliche Lösung.
[Notes for §212 here]

Die Musterwirthschaft

§213 Der Vater Chatelain, Aufseher auf dem Landgute, erzählt dem Schulmeister, der als ein armer unglücklicher Blinder in Bouqueval einspricht, den Plan, welchem Rudolf bei Einrichtung der Musterwirthschaft gefolgt ist. Er sagt: „Eines Tages sagte unser Herr zu sich: ich bin reich; gut; ich kann deshalb aber nicht zweimal essen, wie wär's, wenn ich denen zu essen gäbe, die nichts zu essen haben, und braven Leuten bessres zu Essen gäbe, als sie sich verschaffen können? Ja, ja, das wird gut sein; also rasch an's Werk. Er kaufte das Gut hier.“ Ein vielbenußter Weg in sehr schlechtem Zustande führte von hier nach Ecouen; aber je mehr es einem Jeden daran liegen mußte, ihn in gutem Zustande zu sehen, um so mehr weigerte sich Jeder, daran arbeiten zu lassen und Geld zur Ausbesserung zu geben. Unser Herr, der dieß sah, sagte: „Der Weg soll gebaut werden, da aber die, welche dazu beitragen sollten, nichts beitragen, da er gewissermaßen ein Luxusweg ist, soll er zwar eines Tages denen zu Gute kommen, welche Pferde und Wagen haben, zuerst aber denen, die nur ihre beiden Arme, Arbeitslust, aber keine Arbeit haben. Wenn also ein rüstiger Mensch hier anklopft und sagt: ich habe Hunger, aber keine Arbeit, so wird man ihm zur Antwort geben: hier ist eine gute Suppe, ein Spaten und eine Schaufel; man wird dich auf den Weg nach Ecouen führen; bessere jeden Tag zwei Ruthen daran und Abends sollst du vierzig Sous bekommen; arbeitest du nicht, so erhältst du nichts.“
[Notes for §213 here]
§214 „Nachdem sich so unser Herr das ausgedacht hatte, was er Arbeitsalmosen nennt, dachte er weiter: Man thut für Spitzbuben, was man für ehrliche Leute nicht thut; man verbessert das Vieh, aber nicht die Menschen. Ich weiß wohl, hat er gesagt, daß die rechtlichen Menschen da oben Belohnung finden, aber da oben - Wo sollen sie die Zeit hernehmen, nach dort oben hinzusehn? Am Tage müssen sie sich von früh bis zum Abend auf die Erde bücken und sie umgraben und bearbeiten für einen Herrn. Ist nach angestrengter Arbeit ihr Brot minder schwarz, ihr Lager minder hart, ihre Kinder minder schwächlich, ihre Frau minder erschöpft, sie zu nähren? — sie das Kind zu nähren, da sie kaum selbst ihren Hunger stillen kann! nein, nein! Die Armen würden vielleicht ihr Schicksal mit Freuden ertragen, wenn sie glaubten, es ergehe einem Jeden wie ihnen. Aber da gehen sie in die Stadt, wenn Markt dort ist, und da sehen sie weißes Brot, dicke warme weiche Betten, Kinder, die blühen wie Rosen im Mai und so gesättigt sind, daß sie Hunden Kuchen geben. Da denken die armen Leute: da es Reiche und Arme geben muß, warum sind wir nicht im Reichthum geboren? Das ist ungerecht. Warum kommt nicht Jeder an die Reihe? Die Meisten, die im Lohne arbeiten, sagen und denken: warum sollen wir besser und mehr arbeiten? Ob die Aehre schwer oder leicht ist, mir ist das gleich. Warum sollen wir uns quälen und abarbeiten? Wir wollen ehrlich bleiben, ja; der Böse wird bestraft, also Böses wollen wir nicht thun; das Gute wird aber nicht belohnt, warum sollten wir Gutes thun? Diese, dachte unser Herr, diese müssen gebessert werden, ebenso als wenn sie die Ehre hätten, Pferde, Rindvich oder Schaafe zu sein. Es muß dafür gesorgt werden, daß sie ein Interesse dabei haben, fleißig, thätig, klug, unterrichtet und pflichtgetreu zu sein; es muß ihnen bewiesen werden, daß sie sich materiell wohler befinden, wenn sie besser werden, und Jedermann wird dabei gewinnen. Nachdem unser Herr seinen Plan wohl überlegt hatte, machte er in der Umgegend bekannt, er brauche sechs Knechte und eben so viele Mägde; aber er wollte diese Leute unter den Besten auswählen nach den Zeugnissen, die er sich von den Maires, den Geistlichen oder sonst verschaffen würde. Sie sollten bezahlt werden, wie wir es werden, d. h. wie Prinzen, bessere Kost erhalten wie Bürgersleute und ein Fünftel des ganzen Ertrages unter einander vertheilen; man sollte zwei Jahre auf dem Gute bleiben, um dann Andern Platz zu machen, die ebenso ausgewählt wurden; nach fünf Jahren konnten schon früher Dagewesene wiederkommen, wenn Plätze frei wären. Seit dieser Einrichtung hier sagen nun alle Knechte, Mägde und Tagelöhner in der Umgegend: wir wollen recht thätig, recht ehrlich und arbeitsam sein, wir wollen uns durch unser gutes Betragen auszeichnen, damit wir einmal eine Stelle auf dem Gute in Bouqueval erhalten; dort werden wir zwei Jahre lang wie im Paradiese leben, uns in unserm Stande vervollkommen, uns ein hübsches Sümmchen ersparen und überdieß später überall gern angenommen werden, da Niemand hierherkömmt, der nicht vortrefflich ist. Jedermann gewinnt dabei, die Pächter in der Umgegend haben doppelten Vortheil; es sind hier nur zwölf Stellen zu vergeben, es bilden sich aber vielleicht funfzig Personen in dem Kreise, die danach streben, und warum sollten die, welche nicht aufgenommen werden konnten, nichts desto weniger brav bleiben? Denn, wer einmal keine Aufnahme findet, kann sie das nächste Mal hoffen, kurz und gut, es werden viele brave Leute mehr gebildet.“
[Notes for §214 here]
§215 Man sieht es dem ganzen Plan auf den ersten Blick an, daß es kein Utopien ist. Rudolf bildet in der That durch seine Musterwirthschaft viele brave Leute mehr.
[Notes for §215 here]
§216 Doch nicht bloß unter den Armen und der niedern Klasse giebt es zu bilden und zu bessern.
[Notes for §216 here]

Die Marquise von Harville

§217 Die Marquise von Harville ist unglücklich, nicht, weil es in der Welt und im Leben nicht nach ihrem eigensinnigen Köpfchen, nach ihrer individuellen Laune hergeht; nein, der Dichter hat uns ein zartes Wesen vorgeführt, das sich nicht bloß in seinem Theuersten, sondern im Theuersten und Wesentlichsten, was die Erde dem Weibe überhaupt bieten kann, verlezt und getäuscht fühlt. Ihr Vater hat die Treue gegen eine Mutter, welche sie mit Recht anbetet, um eines verächtlichen, ränkevollen und dabei keineswegs hochgebildeten Weibes willen vergessen und gebrochen. Sie selbst sieht sich in Folge ihres Eifers, die Heuchlerin, welche sie bald als Mutter achten zu lernen gezwungen werden soll, zu entlarven, vom Vater gleichsam verstoßen. Der Gemahl, welchem sie sich mit Leib und Seele zu eigen gegeben, hat sie allein in der egoistischen Absicht — sie muß es furchtbarer Weise schon in der Brautnacht erkennen — zur Frau gewählt, um Liebe zu empfangen, nicht um auch Liebe wiederzugeben. Wie kann er, der von einer abscheulichen Krankheit befallen ist, nur einen Augenblick daran denken, durch ein so inniges Verhältniß, wie die Ehe verlangt, Liebe auf ein andres Wesen auszuströmen. Eine Krankenpflegerin hat er sich geheirathet, muß sie glauben, dabei ein Gefäß für seine Begierde. Selbst als Mutter, in diesem uneigennüßigsten Gefühl, sieht sich die Marquise aufs Tiefste entwürdigt, ja vernichtet: sie hat ein Wesen unter ihrem Herzen getragen und in die Welt gesezt, welches durch sein Leben überhaupt schon selbst unglücklich sein und Andre unglücklich machen muß: ihre Tochter hat die Krankheit ihres Vaters geerbt.
[Notes for §217 here]
§218 So ist sie denn als Tochter, als Gattin und Mutter, in Allem, wodurch sie als Weib das Bedürfniß und den Muth fühlt, sich zur Reinheit des allgemein menschlichen Wesens zu erheben, getäuscht, von ihrem Ziele ab- und auf ihr individuelles Leben, das ihr nicht genügen kann, zurückgedrängt. Sie sieht sich zum Egoismus fast gezwungen. Und obgleich sie niemals aufhört, muthig zu kämpfen, ist sie doch nicht nur nahe daran zu unterliegen, sondern sie unterliegt auch. Nicht das ist ihr größestes Vergehen, worin sie sich nämlich am weitesten von ihrer edlen Natur entfernt, daß sie den Kommandanten Karl Robert erhören will. Im Gegentheil, sie sucht sich durch das Mitleid, welches sie für den schwermüthigen, jungen Mann empfindet, von dem Egoismus, den das Unglück in ihrem Herzen hat überhand nehmen lassen, loszureißen. Wodurch sie zu Karl Robert hingezogen wird, ist also nicht die genußsüchtige romantische Liebe, welche die Herzogin von Lücenay in die Arme eines St. Remy führt.
[Notes for §218 here]
§219 Bei weitem mehr giebt die Marquise von Harville das schöne Gleichmaaß ihres liebenswürdigen Wesens durch die bitterironische Weise auf, mit der sie sich gewöhnt hat, ihren Vater wegen der Schwäche für die schmeichlerische aber geistlose Madame Roland fast zu verachten; am meisten aber durch die ungerechte Beurtheilung ihres Gatten. In der That, sie verkennt denselben, was er am Entschiedensten mit seinem Selbstmord beweist, zu dem ihn freilich die zuletztgewonnene Ueberzeugung veranlaßt, daß ihm seines herrlichen Weibes Liebe als Gattin niemals zu Theil werden wird, wenn ihm durch den edlen Rudolf in ihr auch eine liebe Freundin und Schwester gewonnen und zugeführt worden, ich sage, diese niederschlagende Ueberzeugung habe ihn zwar mit zum Selbstmorde veranlaßt, mehr aber sicher noch der Gedanke, das angebetete Weib, welches er ganz zu würdigen erst neuerdings durch die Unterredung zwischen Rudolf und ihr, die er in eifersüchtiger Absicht behorcht hat, in den Stand gesetzt worden ist, von der grausamen Fessel seines jämmerlichen Daseins zu befreien.
[Notes for §219 here]
§220 Den Gedanken- und Gefühlsstrom der Marquise von Harville in das Bette ihres schönen Naturels zurückzuleiten, weist Rudolf sie auf die unterhaltende Seite der Wohlthätigkeit hin. Ein Gedanke, der von einer Menschenkenntniß, wie sie nur aus dem durch die Prüfung hindurchgegangenen Innern Rudolfs hervorgehn kann, zeugt.
[Notes for §220 here]
§221 Das Bedürfniß der Unterhaltung ist in der menschlichen Natur tief begründet. Schon die Sprache macht den Menschen zu einem geselligen Wesen, dem das eigene Ich nicht genügen kann. Kein Wunder, daß wir die Müßigen von Morgens bis Abends der Unterhaltung nachgehn sehen. Wie aber Alles, das in der menschlichen Natur seine Wurzel hat, diese Wurzel zu verläugnen und sich von seiner Basis frei zu machen strebt, so bleibt das Durcheinander des Lebens in dieser undankbaren Absicht hinter der Wissenschaft und Kunst nicht zurück. Die Unterhaltung glaubt in sich selbst ihren Inhalt und Zweck zu finden. Sie vergißt, woher ihr nur der Saft und die Kraft zuströmen können, und verdorrt zu dem trocknen Instrument, die Zeit todtzuschlagen.
[Notes for §221 here]
§222 Von der nichtssagenden Leere in den Salons kann ein Wesen wie die Marquise von Harville sich nur abgestoßen fühlen. So sehr sie nun aber zu Hause im Vater, im Gatten, in der Freundschaft und Liebe den Zweiten zu jener Zwiesprach und Unterhaltung sucht, die sie selbst noch nicht kennt, zu der sie aber einen unwiderstehlichen Trieb fühlt, immer ist sie durch Verkennung und Täuschung in den Monolog ihres unglücklichen Ich's zurückgeschleudert worden.
[Notes for §222 here]
§223 Da weist sie Rudolf auf die Unterhaltung durch Wohlthun hin, er beweist ihr „daß das Herz sich auf sehr verschiedene Weise zerstreuen kann. - Die Mittel, durch die man zum Guten oder zum Schlechten gelangt,“ sagt er, „sind oft so ziemlich dieselben; der Zweck ist ein andrer. Um es kurz zu sagen: warum sollte man das Schlechte vorziehen, wenn das Gute ebenso anziehend, ebenso unterhaltend ist?“
[Notes for §223 here]
§224 Die Marquise von Harville ergreift die neue Aussicht, ihr Herz zu befriedigen und beginnt ein glücklicheres Dasein.
[Notes for §224 here]
§225 Rudolf erniedrigt seine persönliche Neigung zu der Frau seines Freundes durch ein Geständniß seiner Liebe nicht zum romantischen Verhältniß, sondern erhebt sie zu jener göttlichen Liebe, welche ohne Absicht auf Lohn Glückliche macht, indem er die Marquise vor einem entehrenden Schritte und der damit zusammenhängenden blutigen Rache ihres Mannes rettet, und, was mehr noch ist, wieder zu dem reinen, uneigennüßigen, liebevollen Wesen, das sie ehemals an dem Herzen ihrer vortrefflichen Mutter gewesen, aufrichtet.
[Notes for §225 here]
§226 An der Marquise von Harville schafft und bereitet sich Rudolf denn auch den leßten und schönsten, den unvergänglichen Lohn seiner Thaten auf dieser Erde: Er ist am Tage des Begräbnisses der Marienblume „nicht allein.“
[Notes for §226 here]

Marienblume

§227 Der Gang meiner Entwickelungen gebietet, daß erst am Schluß derselben Marienblume ihre Stelle findet.
[Notes for §227 here]
§228 Habe ich nämlich der Auseinanderbreitung des objectiven Weltzustandes die Aufweisung des leitenden Gedankens folgen lassen, welcher sich Rudolfs bemächtigt hat und durch ihn die specielle epische Handlung in Bewegung sezt; habe ich als Träger und Diener der Geheimnisse jenes Weltzustandes theilweise ganz andere Personen und Charactere vorführen müssen, als die, an denen ich später Rudolfs Wirken erläutern und beweisen konnte, so könnte dieß Veranlassung zu der irrthümlichen Vermuthung werden, Eugen Sue habe wohl gar die Darstellung der objectiven Grundlage von der Entwicklung der handelnden individuellen Kräfte, welche nur aus jenem Hintergrunde begriffen werden können, in der Weise getrennt, wie unser großer Schiller Wallensteins Lager von Wallensteins Tod trennt, was sich allenfalls für das Drama besser als für das Epos mag rechtfertigen lassen.
[Notes for §228 here]
§229 Weltzustand und epische Begebenheit würden auch noch nicht zu einem wahrhaft einigen Ganzen künstlerisch verbunden sein, wenn sie nur in einem bunten Gemisch durcheinander kreuzten, bald hier ein Stück Weltzustand und wieder dort eine Scene Handlung mit einander abwechselten. Soll wirkliche Einheit entstehen, so müssen beide, die Geheimnisse dieser befangenen Welt, und die Klarheit, Offenheit und Sicherheit, mit welcher Rudolf in sie eindringt und sie enthüllt, in einem Individuum und Character zusammenstoßen, und vereint das vom Herzen aus-, zum Herzen zurückströmende Blut eines reichen Lebens ausmachen.
[Notes for §229 here]
§230 Marienblume hat in unserem Epos diese Aufgabe.
[Notes for §230 here]
§231 Der Weltzustand, wenn er im einzelnen Character sich concentriren soll, kann als das Allgemeine der Gegenwart nur auf der Seite des stärkeren, herrschenden Princips in diesem Character stehen. Dasjenige also, welches dem Character der Marienblume, wenn anders sie ihrer Bestimmung im Kunstwerk nachkommen soll, sich als die immer von ihr weichende Grundlage untergebreitet sein muß, ist das Geheimniß.
[Notes for §231 here]
§232 Marienblume bildet daher auch den geraden Gegensatz zu Rudolf. Rudolfs Schuld ist persönlich, die er abzutragen im Stande ist, weil er sie kennt, weil er weiß, welch unendlichen Schatz und Reichthum von Kräften die Geburt und das Geschick ihm anvertraut haben, daß er, ihrer würdig zu sein, dieß Verdienst sich nachträglich erwerbe. Marienblume trägt unwissend die allgemeine Schuld der Zeit, die Schuld des Geheimnisses, welche für sie das unergründliche, niederdrückende Geheimniß der Schuld wird. Ohne Prüfung und Urtheil ist sie überzeugt, daß sie dieselbe gerecht und verdient trägt. Obgleich individuell die Offenheit der Unschuld selbst, muß sie doch untergehn an der allgemeinen Schuld. Rudolf steht der 13. Januar ewig gegenwärtig und vor Augen, aber mit dem Princip der Zukunft, die er schaffen will und schafft, überwindet er die Gegenwart, wo sie auch noch so mächtig auftreten mag. Die Schuld der Marienblume ist nicht ihre That, an der sie den Maaßstab finden möchte, eben diese Schuld und zugleich ihre Kräfte zu prüfen, nicht ihre That sondern ihre Erinnerung, die Vergangenheit, welche nimmer auslöschen will. In der Sklaverei bei der Wirthin zum weißen Kaninchen ist es die Erinnerung an die elternlose, traurige Jugend, welche sie bei der Eule, körperlich und moralisch gemißhandelt, hat zubringen müssen. In Bouqueval ist es die Erinnerung an Erniedrigung und Schande in der Gemeinschaft von Verbrechern. In St. Lazarus und später ist es die Erinnerung an die Verachtung der Pächterin Madame Dübreuil, welche Marienblume, einmal berührt von dem Pesthauch des Lasters, mit stiller trauriger Resignation als eine verdiente auf sich eindringen lässet. In Gerolstein, als die geliebte, angebetete, gesegnete Prinzessin, ist es die Erinnerung an den Blick der Wirthin zum weißen Kaninchen, welcher sie beim Abschied von Paris und dem Beginn eines ganz neuen Daseins getroffen hat. Marienblume stirbt in ihren auf der Brust gefalteten Händen die Ueberreste ihres kleinen Rosenstockes, sie stirbt mit der Erinnerung aller Erinnerungen ihres Lebens: in diesem Rosenstock, den sie einst, der Schmach leibeigen, wie eine besorgte Mutter ihr Kind spazieren geführt hat, damit er an reiner Luft sein kränkelndes Dasein erkräftige, in diesem Rosenstock concentrirt sich ihr ganzes Leben, ihr vergängliches unschuldiges Dasein inmitten einer ewigen unvergeßlichen Schuld. Ihr letzter Athemzug ist daher auch die Bitte um Verzeihung, Vergebung! Und doch ist ihr persönlich nichts zu vergeben. Innerlich rein, wie selten ein Mensch, entschlummert sie aus dieser Welt.
[Notes for §232 here]
§233 Marienblume trägt die Schuld der Zeit und wird von ihr erdrückt, ohne selbst Theil an ihr zu haben. Rudolf tilgt die Schuld der Zeit, weil er sich selbst von einer schweren Schuld zu befreien hat.
[Notes for §233 here]
§234 Der logischen Folge nach müßte Rudolf der Sohn der Marienblume sein; aber das ist ein neues Geheimniß, daß die Gegenwart aus ihrem Schooße statt der Zukunft oft die längst hingeschiedene Vergangenheit gebiert. Aber dieses Kind hat dann keine Zukunft, es trägt den Keim des Todes in seinem jungen Dasein und stirbt wie Marienblume, als ihm eben verstattet werden soll, die ganze wundervolle Pracht seiner Blüthe zu entfalten. Marienblume welkt und sinkt in den Staub, Rudolf aber, der Stamm, welcher tiefe Wurzeln in den Boden der Gegenwart geschlagen hat, wird sich wieder aufrichten: er steht nicht allein. Das Kind stirbt, der Vater lebt. Den Kindern bahnt der Vater den Weg, und was sie schaffen werden, ruht auf seinen Schultern. Das Kind, wenn es nicht wiederum Vater oder Mutter wird, sondern jungfräulich und unschuldig in die Gruft niedersteigt, ist nichts als ein rührender Abschied, den die Vergänglichkeit von der ewigen Fortentwicklung der menschlichen Natur in neuen und immer neuen Geschlechtern nimmt.
[Notes for §234 here]
§235 Dieses Kind aber ist wesentlich Tochter. In ihm ist das leidende Princip des Weibes zur unendlichen Passion gesteigert. Wenn Marienblume sich daher der Liebe zu einem edlen ihrer würdigen Jüngling nicht hingiebt, so geht diese Weigerung einerseits aus ihren traurigen Erinnerungen hervor, mit denen sie kein anderes, am wenigsten ein geliebtes Wesen in Berührung bringen mag; anderseits darf Marienblume, um ganz der Idee zu entsprechen, welche sie in unserm Epos verkörpert, niemals Mutter werden. Das Weib, welches Mutter wird, giebt ihre Passivität auf, sie gehört ferner sorgend, wirkend und schaffend der Zukunft an, während Marienblume doch die Aufgabe hat, gleichsam die leßte Wehmuthsthräne darzustellen, welche die Vergangenheit vor ihrem gänzlichen Scheiden weint.
[Notes for §235 here]
§236 Geht aus dem Ebengesagten auch schon hervor, warum grade nur ein weibliches Wesen diesen leßten Abschluß der Vergangenheit zur Erscheinung bringen kann, so wird dies doch noch deutlicher werden, wenn wir Germain der Marienblume gegenüberstellen.
[Notes for §236 here]
§237 Germain ist der Mutter entrissen wie Marienblume dem Vater. Beide tragen die Schuld Anderer. Aber Germain flieht diese Schuld, weil er sie kennt, er warnt seinen Principal, den er auf Befehl seines Vaters, des schrecklichen Schulmeisters, betrügen und berauben soll. Marienblume schämt sich der Schuld, welche sie selbst nicht begangen und von der sie auch nicht weiß, wer sich durch dieselbe an ihr versündigt. Marienblume leidet nur, Germain leidet auch, aber empört sich zugleich. Auf Marienblume lastet die ganze Welt, weil ihre Schuld ihr Geheimniß ist; Germain hat mit einem bösen Geschick zu kämpfen. Dasselbe zu besiegen gelingt ihm mit dem Beistande Anderer. Für Marienblume mögen Fürst und Kirche, mag der Seegen aller Welt in die Schranken treten, die Erinnerung an Schmach und Schande können sie ihr nicht vom Busen wälzen. Wenn Marienblume die Vergangenheit repräsentirt, so ist Germain ganz Geschöpf der Gegenwart. Wie diese ihn niederbeugt oder ihm an die Hand geht, so schwindet und wächst ihm der Muth; aber weder wie Marienblume hat ihm die Vergangenheit den ewigen Anstoß, die unerlöschbare Färbung für das ganze Leben gegeben, noch ist er sich selbst wie Rudolph der lebendige Quell, der zum mächtigen Strom in die Zukunft hinein wachsen und schwellen mag. Er ist, wie die Zeiten mit sich bringen, der melancholische Nachbar und der glückliche Gatte der Lachtaube.
[Notes for §237 here]
§238 Aber nicht bloß gegen Rudolf und Germain, sondern auch gegen Jedermann bildet Marienblume den entschiedensten Gegensatz. Aller Geheimnisse können sämmtlich enthüllt werden: Rudolf macht den Verbrecher zum ehrlichen Mann, indem er ihm zuruft: „Du hast doch noch Ehre im Leibe.“ Rudolph beweist durch seine Bestrafung dem Unmenschen, daß er doch noch menschlich fühlt. Rudolph beugt durch vortreffliche Einrichtungen, die Musterwirthschaft in Bouqueval und die Armenbank, der Verarmung und Verwilderung vor. Rudolf verschafft der Armuth Auskommen, der Rechtlosigkeit Recht. Rudolf entlarvt die Heuchelei. Rudolf führt die Unsitte der Ver- und Ueberbildung zur wahren menschlichen Natur und zur ächten Liebe zurück, indem er sie auf die Unterhaltung hinweist, welche die Wohlthätigkeit gewährt. Kurz vor Rudolf, d. h. der Macht des zum Bewußtsein seiner Sehkraft gekommenen Menschen schwinden alle Geheimnisse. Von Vorurtheilen geblendet aus leidigen Rücksichten haben wir uns die Augen vor ihnen zugehalten. Aber wenn der Lehrer in seiner Schule zwei Kinder wegen eines und desselben Uebermuths zu strafen hat und er züchtigt das Kind aus dem Volk wie sich gebührt mit Ruthenstreichen, das adlige Kind aus Rücksichten für den hochgestellten Vater aber läßt er laufen, was sind die Rücksichten anders, als die Herrschaft der Feigheit und Erbärmlichkeit in ihm über ihn? Die Geheimnisse sind das aristokratische Kind der Geschichte, welches fein höflich behandelt, bisher sich nimmer zu entblößen brauchte, während mit dem Menschen, dem demokratischen Kinde, stets ohne Umstände verfahren wird.
[Notes for §238 here]
§239 Allen diesen unwahren usurpirten Geheimnissen steht nun Marienblume als das einzig wahre unenthüllbare Geheimniß gegenüber. Marienblume zeigt der gegenwärtigen Welt die Unmöglichkeit, das zu werden, was zu werden sie sich capricionnirt, nämlich Vergangenheit. Die Welt müßte denn untergehn wie Marienblume. Dadurch bahnt Marienblume den Weg für die Gedanken, welche Rudolf beseelen, daß sie Weltumgestaltend werden mögen. Denn der Welt, welche nicht zurück kann, bleibt nur noch die eine Möglichkeit, muthig vorwärts zu schreiten und durch Wort und That zu beweisen, daß ihr Blick in die Zukunft nicht mehr eine luftige Vision ist, sondern ein klares und sicheres Hineinschauen in sich selbst, dem dann die Nebel und Wolken weichen müssen, die ihr verbergen, welch ein Ziel sie zu erreichen habe.
[Notes for §239 here]
§240 Lachtaube aber, welche sich thatsächlich schon innerhalb des jezigen Weltzustands in einer freien, reinen und ungetrübten Atmosphäre bewegt, erhält erst ihre Rechtfertigung durch Marienblume. Wäre diese nicht ein Spiegel der Wahrheit, welche das Geheimniß einst gewesen, Lachtaube könnte sich nicht über den Schein so frei und heiter hinwegsehen.
[Notes for §240 here]
§241 Dadurch aber, daß Marienblume nun überhaupt eine Wahrheit in ihrem Herzen trägt, ist sie weit geeigneter als alle Welt, die nur in der Lüge und Halbheit lebt, Rudolf, welcher eine neue Wahrheit verkündigt, zu begreifen und unterstüßen. Sie macht Rudolfs Aufgabe auch sogleich zu der ihrigen. Und daß es denn auch ihr, sie zu lösen, auf's Vortrefflichste gelingt, beweist die Wölfin und überhaupt alle gefangenen Mädchen in St. Lazarus. Zu diesem „Zuchthaussaamen“ sagt Marienblume: „Ihr quält die Mt. St. Jean nur aus Langeweile, nicht aus Grausamkeit. - Aber Ihr vergeßt, daß sie nicht allein ist, daß sie ein Kind unter dem Herzen trägt. „Ihr würdet sie sonst nicht nur nicht schlagen, weil Ihr fürchten müßtet, dem armen unschuldigen Kinde wehe zu thun, Ihr würdet sogar, wenn es kalt ist, der Mutter Alles geben, was Ihr entbehren könnt, um es zu erwärmen, nicht wahr, Wölfin?“ - Sie antworten wie mit einem Munde: „Freilich, wer würde nicht mit einem Kinde Mitleid haben? Wer hätte den Muth, ihm etwas zu Leide zu thun? — Wir müßten ja Unmenschen sein!“
[Notes for §241 here]
§242 Das aber, Civilisation! sind deine Unmenschen! - Sie sind nicht wilder und boshafter, du machst sie dazu!
[Notes for §242 here]
§243 Wie die gefangenen Mädchen von Marienblume sagen: „Sie ist nicht wie wir andern,“ und sich vor ihr schämen, so müssen die Geheimnisse der Gegenwart sich eingestehen: Das wahre Geheimniß ist anders als wir. Von Gott ist es in den Busen des Menschen gesenkt; wir aber sind ganz gemeine, schlechte irdische Geheimnisse, die als Geheimnisse nichts werth sind, jedoch, enthüllt, der Welt eine neue Gestalt zu geben im Stande und bestimmt sind.
[Notes for §243 here]
§244 Das Verhältniß zwischen Rudolf und Marienblume giebt noch zu einer leßten Betrachtung Veranlassung. So lange Rudolf nämlich die Buße seiner persönlichen Schuld rein auf das allgemeine Wesen richtet, gelingt sie ihm in jeder Unternehmung vollständig, ja ihm wird der Beweis, daß er sein Vergehen nunmehr gesühnt hat: er findet ja unerwartet seine Tochter wieder und eine ganz seiner würdige Gattin. Von nun ab aber bekommt seine Sühne auch ein ganz individuelles Interesse: er will in der Schalkerin, die er in Elend und Niedrigkeit angetroffen, nicht mehr bloß die Menschheit retten, sondern die köstliche Marienblume zur Prinzessin erheben, d. h. nicht mehr das Wesen anerkannt wissen, sondern den Zufall, welcher Marienblume als seine (Rudolfs) Tochter geboren werden ließ. Da er Marienblume in Bouqueval ein unglückliches, aber vortreffliches Weib, Madame Georges, zur Mutter giebt, steht er auf der Höhe seiner Aufgabe; da er Marienblume, seine Tochter nach Gerolstein, seine fürstliche Residenz, an den Hof bringt, fällt er von seiner Aufgabe ab. Auch der lezte Versuch, noch im Kloster die Prinzessin zu erhalten, nämlich Marienblume zur Aebtissin zu machen, mißlingt.
[Notes for §244 here]
§245 Rudolf zahlt hier seiner Zeit den Tribut, und daß es so ist, führt ihn uns näher. Er steht eben in diesem Weltzustande der geheimnißvollen Halbheit und Schuld und daß diese für ein Individuum, sei dasselbe auch noch so sehr mit materiellen und geistigen Vorzügen ausgestattet, am Ende doch zu gewaltig wird, darf uns nicht Wunder nehmen, soll uns vielmehr Aufforderung sein, die Schuld für eine gemeinschaftliche anzuerkennen und uns in dem Bewußtsein dieser allgemeinen Schuld zu einem einigen Ganzen zusammenzufinden, welches dann zu leisten im Stande sein wird, was der Einzelne sich wohl zur Aufgabe seines Lebens machen, aber doch nimmer ganz zu Ende führen kann.
[Notes for §245 here]
§246 Seien wir weder zu ekel, noch zu muthlos, treten wir Jeder in's volle Leben hinein. Gehen wir dort in die Schule, wo der Unterricht uns wach zur Arbeit, gesund zur Ruhe erhält und zu träumen weder die Zeit läßt, noch den unruhigen Schlaf giebt. Es ist an der Zeit, daß wir uns nicht mehr bloß lehren lassen, und in Folge dessen gelehrt und gelehrig werden, nein, daß wir selbst sehen und nicht dies und das, sondern unsre Zustände kennen, unsre Kräfte gebrauchen lernen.
[Notes for §246 here]
§247 Wenn wir die Menge der Leser der Geheimnisse von Paris nicht aus ganz gedankenlosem Stoff gebildet glauben wollen, so dürfen wir die Hoffnung hegen, daß die ungemeine Popularität unsres Epos beitragen werde, der allgemeinen Gewohnheit, nach welcher die Einen aus ihren vier Pfählen heraus nach bloßen Begriffen in's Blaue hineinschießen, die Andern sich nimmer über den bestimmten vorliegenden Fall und ihr egoistisches Interesse erheben, beide also frei zu sein meinen von dem ganzen weiten Allesumfassenden Reiche des menschlichen Zusammenlebens und Wirkens, das weder den Begriff zu seinem Herrscher, noch den Staat zu seiner Gränze hat, Einhalt zu thun und die Masse zum reinen Urtheil zu wecken und anzuregen.
[Notes for §247 here]

Schluß

§248 Ob mir der Beweis gelungen ist, daß die Geheimnisse von Paris nichts Anders sind, als die lebendige Kritik des gegenwärtigen Weltzustandes, und zwar als diese Fleisch und Blut gewordene Kritik ein Epos, muß ich dem besonnenen Urtheil überlassen.
Hab ich meine Aufgabe gelöst, so sind die weiteren Folgerungen für die Kunst — die Aesthetik kann ja nicht Regeln vorschreiben, sondern nur Kunstwerke begreifen wollen — noch diese:
[Notes for §248 here]
§249 Die Kunst hat zunächst nicht mehr nöthig, die Kategorie der Einheit als ihr höchstes Dogma und ihren ersten, und legten Maaßstab an die Spitze zu stellen. Der romantischen Kunst war dieß ein unerläßliches Bedürfniß, daß sie sich nicht verliere und auseinandergehe. Der Gegenstand ihrer Darstellung ist in höchster Instanz das Ewige und Vollkommene selbst. Sie kennt aber nichts Besseres als das Zeitliche und Unvollkommene, die Erde, auf welcher der Mann im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwerben, das Weib mit Schmerz Kinder gebären muß. Und dieß, was sie kennt, muß ihr das vertreten und Symbol sein für das, was ihr eine Ahnung, eine Sehnsucht, ein Wunsch, ein Glaube, ihr Ideal ist; Beides, was sie darstellen will, und was sie doch nur darstellen kann, muß sie unaufhörlich bemüht sein zusammenzuhalten, weil es sich selbst nicht bindet. Daher spricht die Romantik so viel von Einheit und ist doch nicht Einheit. Ja sie ist's nicht einmal in der Theorie. Das beweist sie unter Anderm schon durch die Art, wie sie aus dem einfachen Schönen, dem in sich ruhenden Schönen, das Erhabene und Komische, das aus sich heraustretende, sich nach der einen oder andern Seite überflügelnde Schöne, ableitet und entwickelt.
[Notes for §249 here]
§250 Die Kunst, welche, wie die Geheimnisse von Paris, auf wirklicher Weltanschauung beruhen will, ist ohne Weitres Einheit, braucht daher das Dogma nicht mehr, darf es auch nicht mehr anerkennen.
[Notes for §250 here]
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