Show Notes
⬅ Back

Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik III. »Die Gründlichkeit der kritischen Kritik« oder die kritische Kritik als Herr J. (Jungnitz)

Deutsch

Author: Karl Marx  Year: 1845 

§45 Der unendlich wichtige Streit des Herrn Nauwerck mit der Berliner philosophischen Fakultät darf von der Kritik nicht unberührt bleiben; sie hat ja Ähnliches erlebt und muß Herrn Nauwercks Fata zum Hintergrunde nehmen, um davon ihre Bonner Entsetzung desto greller sich abheben zu lassen. Da die Kritik die Bonner Historie als das Ereignis des Jahrhunderts anzusehn gewohnt ist und bereits die »Philosophie der Absetzung der Kritik« geschrieben hat, so war zu erwarten, daß sie in ähnlicher Weise die Berliner »Kollision« philosophisch bis ins Detail konstruieren würde. Sie beweist a priori, daß das alles so und nicht anders sich habe zutragen müssen, und zwar:
§46 l. warum die philosophische Fakultät nicht mit einem Logiker und Metaphysiker, sondern mit einem Staatsphilosophen habe »kollidieren« müssen;
2. warum diese Kollision nicht von der Härte und Entscheidung sein konnte als der Konflikt der Kritik mit der Theologie in Bonn;
3. warum die Kollision eigentlich dummes Zeug war, da die Kritik bereits in ihrer Bonner Kollision alle Prinzipien, allen Gehalt konzentriert hatte und nun die Weltgeschichte nur an der Kritik zum Plagiarius werden könnte;
4. warum die philosophische Fakultät sich in Herrn Nauwercks Schriften selbst angegriffen sah;
5. warum Herrn N[auwerck] nichts übrigblieb, als freiwillig zurückzutreten;
6. warum die Fakultät Herrn N[auwerck] verteidigen mußte, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollte;
7. warum die »innere Spaltung im Wesen der Fakultät sich notwendig so darstellen mußte«, daß die Fakultät sowohl N[auwerck] wie der Regierung recht und unrecht zu gleicher Zeit gab;
8. warum die Fakultät in N[auwerck]s Schriften kein Motiv zu seiner Entfernung findet;
9. worin die Unklarheit des ganzen Votums bedingt ist;
10. warum die Fakultät sich »als wissenschaftliche Behörde! berechtigt! glaubt! den Kern der Sache ins Auge fassen zu dürfen«, und endlich
11. warum dennoch die Fakultät nicht in gleicher Weise wie Herr N[auwerek] schreiben will.
§47 Diese wichtigen Fragen erledigt die Kritik auf vier Seiten mit seltner Gründlichkeit, indem sie aus Hegels Logik beweist, warum das alles so geschehen sei und kein Gott hätte dagegen angehen können. Die Kritik sagt an einem andern Ort, es sei noch keine einzige Geschichtsepoche erkannt; die Bescheidenheit verbietet ihr zu sagen, daß sie wenigstens ihre eigne und die Nauwercksche Kollision, die zwar keine Epochen sind, aber in ihrer Ansicht doch Epoche machen, vollständig erkannt hat.
§48 Die kritische Kritik, die das »Moment« der Gründlichkeit in sich »aufgehoben« hat, wird zur »Ruhe des Erkennens.«
§49 Die französischen Sozialisten behaupten: Der Arbeiter macht alles, produziert alles, und dabei hat er kein Recht, keinen Besitz, kurz und gut nichts. Die Kritik antwortet durch den Mund des Herrn Edgar, der personifizierten Ruhe des Erkennens:
§50 »Um alles schaffen zu können, dazu gehört ein stärkeres als ein Arbeiterbewußtsein. Nur umgekehrt wäre der Satz wahr: Der Arbeiter macht nichts, darum hat er nichts, er macht aber nichts, weil seine Arbeit stets eine einzeln bleibende, auf sein eigenstes Bedürfnis berechnete, tägliche ist.«
§51 Die Kritik vollendet sich hier zu jener Höhe der Abstraktion, in der sie bloß ihre eigenen Gedankenschöpfungen und aller Wirklichkeit widersprechenden Allgemeinheiten für »Etwas«, ja für »Alles« ansieht. Der Arbeiter schafft nichts, weil er bloß »Einzelnes«, d.h. sinnliche, handgreifliche, geist- und kritiklose Gegenstände schafft, die ein Greuel sind vor den Augen der reinen Kritik. Alles Wirkliche, Lebendige ist unkritisch, massenhaft, darum »Nichts«, und nur die idealen, phantastischen Kreaturen der kritischen Kritik sind »Alles.«
§52 Der Arbeiter schafft nichts, weil seine Arbeit eine einzeln bleibende, auf sein bloß individuelles Bedürfnis berechnete ist, also weil die einzelnen, zusammengehörigen Zweige der Arbeit in dieser jetzigen Weltordnung getrennt, ja gegeneinander gestellt sind, kurz, weil die Arbeit nicht organisiert ist. Der eigne Satz der Kritik, wenn man ihn in dem einzig möglichen vernünftigen Sinn faßt, den er haben kann, verlangt die Organisation der Arbeit. Flora Tristan, bei deren Beurteilung dieser große Satz an den Tag kommt, verlangt dasselbe und wird für diese Insolenz, der kritischen Kritik vorzugreifen, en canaille behandelt. Der Arbeiter schafft Nichts; dieser Satz ist übrigens – wenn man davon absieht, daß der einzelne Arbeiter nichts Ganzes produziert, was eine Tautologie ist – total verrückt. Die kritische Kritik schafft Nichts, der Arbeiter schafft Alles, ja so sehr Alles, daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen beschämt; die englischen und französischen Arbeiter können davon Zeugnis ablegen. Der Arbeiter schafft sogar den Menschen; der Kritiker wird stets ein Unmensch bleiben, wofür er freilich die Genugtuung hat, kritischer Kritiker zu sein.
§53 »Flora Tristan gibt uns ein Beispiel jenes weiblichen Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe aus den Kategorien des Bestehenden bildet.«
§54 Die Kritik tut nichts als sich »Formeln aus den Kategorien des Bestehenden bilden«, nämlich aus der bestehenden Hegelschen Philosophie und den bestehenden sozialen Bestrebungen; Formeln, weiter nichts als Formeln, und trotz allen ihren Invektiven gegen den Dogmatismus verurteilt sie sich selbst zum Dogmatismus, ja zum weiblichen Dogmatismus. Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete Hegelsche Philosophie, die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umherschielt.
§55 Herr Edgar, der nun einmal der sozialen Fragen sich erbarmt, mischt sich auch in die »Hurenverhältnisse.« ([Heft] V, p. 26.)
§56 Er kritisiert des Pariser Polizeikommissärs Béraud Buch über die Prostitution, weil es ihm »auf den Standpunkt« ankommt, von dem »Béraud die Stellung der Freudenmädchen zur Gesellschaft auffaßt.« Die »Ruhe des Erkennens« wundert sich, wenn sie findet, daß ein Polizeimensch eben einen Polizeistandpunkt hat, und gibt der Masse zu verstehen, das sei ein ganz verkehrter. Ihren eignen Standpunkt gibt sie aber nicht zu verstehen. Natürlich! Wenn die Kritik sich mit Freudenmädchen abgibt, so kann man nicht verlangen, daß dies vor dem Publikum geschehe.
§57 Um sich zur »Ruhe des Erkennens« zu vollenden, muß die kritische Kritik vor allem sich der Liebe zu entledigen suchen. Die Liebe ist eine Leidenschaft, und nichts gefährlicher für die Ruhe des Erkennens als die Leidenschaft. Bei Gelegenheit der Romane der Frau v. Paalzow, die er »gründlich studiert zu haben« versichert, überwältigt Herr Edgar daher »eine Kinderei wie die sogenannte Liebe.« Solches ist ein Scheuel und Greuel und reget in der kritischen Kritik auf Ingrimmigkeit, machet sie fast gallenerbittert, ja abersinnig.
§58 »Die Liebe... ist eine grausame Göttin, welche, wie jede Gottheit, den ganzen Menschen besitzen will und nicht eher zufrieden ist, als bis er ihr nicht bloß seine Seele, sondern auch sein physisches Selbst dargebracht hat. Ihr Kultus ist das Leiden, der Gipfel dieses Kultus ist die Selbstaufopferung, der Selbstmord.«
⬅ Faucher Union Ouvrière ➡