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Die Geheimnisse von Berlin

Deutsch

Author: Unknown  Year: 1844 

§1 1) Mysterien von Berlin, von Schubart. Erster Theil.
2) Die Geheimnisse von Berlin. Aus den Papieren eines Berliner Kriminalbeamten. Berlin 1844. Erster Band.
[Notes for §1 here]
§2 Die Titel dieser Bücher sind Beweise für die Bescheidenheit und für die Anmaßung ihrer Verfasser. Für die Bescheidenheit, weil die Verfasser sich durch sie als Nachahmer ankündigen: für die Anmaßung, weil sie sich mit Eugene Sue, Berlin mit Paris zusammenstellen. Und wie die Anmaßung immer kurzsichtig ist, so hat sie auch hier nicht eingesehen, daß es nicht genug sei, eine große Stadt zu haben, um auch gleich Geheimnisse zu haben; sie hat nicht bedacht, ob nicht vielleicht der Ausdruck Geheimnisse blos auf Paris paßt.
[Notes for §2 here]
§3 Ein Geheimniß ist nur da, wo sein Gegensatz, das Oeffentliche ist. Unser ganzes Leben ist ein geheimes. Unsere geheimen Verhältnisse sind nicht im Voigtlande, nicht unter Dieben und Räubern zu suchen. Der Dieb muß vor Allem seiner selbst gewiß, er muß eine in sich abgeschlossene Persönlichkeit, eine reelle Existenz sein: das ist er vielleicht in Paris, wo er mit Bewußtsein einem gleißenden, öffentlichen bewegten Leben gegenübersteht: da ist er vielleicht ein Charakter, eine Romanenfigur, hier in Berlin nicht: hier ist er der kriechende, inhaltslose Lump.
[Notes for §3 here]
§4 Die Beschränktheit, die verehrte, heilig gehaltene Beschränktheit, das ist das echte Geheimniß in den Lebensverhältnissen: die Unfreiheit, welche die Besprechung und die Untersuchung scheut, die charakterisire und du wirst mehr gethan haben, als wenn du dich blos mit der einen Erscheinungsform dieser Beschränktheit und Unfreiheit, mit dem Diebs- und Hurenleben auf eine moralisirende Weise beschäftigst.
[Notes for §4 here]
§5 No. 1. hat eine „das Voigtland“ überschriebene Einleitung, in welcher der Verfasser sagt, daß er in seinen Mysterien nicht blos die Lebensverhältnisse der elenden Verbrecher, sondern auch das Leben höherer Stände beschreiben werde: wir glaubten ihn auf der rechten Spur. Was aber ist der Sinn dieser Worte? Daß die „Immoralität“, die Gaunerei, die Betrügerei auch in „höheren Kreisen“ herrsche. Nur in dieser „Immoralität“ findet er das Band, den Zusammenhang zwischen oben und unten.
[Notes for §5 here]
§6 Wir kennen eine Berliner Novelle, in welcher der Verfasser die Charakteristik des Geheimen Rathes liefert, in welcher er die Hohlheit des ehelichen Verhältnisses zwischen einem frommgewordenen Baron und einer frivolgewordenen Geheimerathstochter schildert, in welcher er von einem Schriftsteller erzählt, der im Anfange enthusiastischer Freiheitsfreund, am Ende durch die Censur, die Intrigue und den Hunger in das Berichtigungsbüreau geschickt wird. Indem der Verfasser dieser Novelle die Lebensverhältnisse nicht mit der Elle der Immoralität mißt, sondern in ihrem Wesen aufzufassen und zu schildern sucht, glaubt er gewiß viel eher „Geheimnisse Berlins“ gegeben zu haben, als wenn er den Leser in eine Schnapsspelunke führte.
[Notes for §6 here]
§7 Man studire unsere Schule, unsere Ehe, unsere Erziehung, unsere Gerichte; man schildere diese vor Allem auf gründliche Weise: aber dann wird man keinen Roman schreiben.
[Notes for §7 here]
§8 Die Kunst ist nicht berufen, den Kampf, den Widerspruch, welcher in unseren Verhältnissen liegt, zu lösen: Bildung und Bildungslosigkeit, Besiß und Besißlosigkeit, diese Gegensätze, die auch den vorliegenden Romanen zu Grunde zu liegen scheinen, müssen, wenn sie nicht verrückt, ja entweiht werden sollen, ganz und gar der Kritik anheimfallen. Die Kunst strebt am Ende immer nach sentimentaler Versöhnung: die Heirath des reichen Mannes mit der armen, fromm-gewordenen Hure, die Erbschaft, die der arme Schlucker macht, oder das Schaffot, oder der Selbstmord, oder das Gefängniß, oder Amerika, wohin der entsprungene Verbrecher flieht, um Biedermann zu werden: das sind die Antworten, welche die Kunst für die Räthsel der Zeit in Bereitschaft hat. Es kann und darf ihr nicht gelingen, die wahrhafte Auflösung dieser Räthsel zu geben.
[Notes for §8 here]
§9 Gar zu gern nimmt die Kunst, wie in beiden vorl. Romanen, die Tugend, die Moralität zum Maasstab, und braucht sie als versöhnendes Element. Die Tugend betrachtet Alles, was, ihr fremd ist, als einen Abfall von sich; sie faßt den Verbrecher nicht als ein Ganzes für sich auf, sondern sie berechnet nur, wie weit er von ihr selber abgewichen und auf welchem Wege er zu ihr zurückzuführen sei: sie hat keinen allgemeinen Blick für die Zustände und Verhältnisse, sie findet in ihnen keine Schuld, sondern eben nur in dieser einzelnen lasterhaften Person, und sie ist zufrieden, wenn sie diese eine Person bekehrt hat.
[Notes for §9 here]
§10 So verfällt die Kunst mit ihrem Tugendprincip in No. 2. in rohe Abgeschmacktheiten. Wir hören hier von dem jüngsten Säuglinge als „Prügelinstrument,“ von dem edlen „Elternpaar,“ worunter ein Paar arme Voigtländer, denen der Erecutor das Bischen Habe genommen, verstanden sind, von der „edlen Kunst des Bettelns“ und Aehnlichem. Das ist die gemüthliche Redeweise des menschenfreundlichen Romanschreibers.
[Notes for §10 here]
§11 Sonst ist es, was nicht schwer war, den Verfassern vorstehender Romane gelungen, Eugene Sue in dem äußeren Mechanismus seines Romans nachzuahmen. Etwas Diebssprache, Gensdarmen, nächtlicher Ueberfall, Judenpack, Diebskneipe, Lumpensammlerin, Hurerei in No. 2., eine geheimnißvolle Prügelscene, Raubanfall, Diebskneipe und edle Armuth in No. 1.: ganz die äußerlichen Ingredienzien, denen aber das Suesche Gewürz, die Suesche Kunst zu charakterisiren fehlt.
[Notes for §11 here]
§12 Schließlich sage ich es noch einmal. Bei Besprechung solcher Lebensverhältnisse, wie die Verf. der vorl. Romane zu behandeln wagen, hat man mit schärferen Waffen, schärferen Worten, schärferen Gedanken zu kämpfen, als den Verf. zu Gebote stehen. Vor Allem hüte man sich, in jeder Lumpensammlerin eine romantische Person zu sehen und über der Person die Sache zu vergessen, welche nichts Anderes ist, als die Sache der Menschheit.
[Notes for §12 here]
§13 3) Das Auge der Polizei. Aus dem Leben Berlins. Von J. Lasker. Berlin 1844. Berliner Verlagsbuchhandlung.
[Notes for §13 here]
§14 In diesem Romane finden wir Nichts weiter als die Bestandtheile aller gewöhnlichen gefühlvollen und moralischen Erzählungen. Ein Grafensohn, der von einem Kunstreiter gestohlen und endlich zum Dieb und Mörder wird, ein betrügerischer Jude, Schnapssäufer, Hurer und Philister. - Alles schon dagewesen. Wie kommts, daß man jezt dergleichen Sachen für Merkwürdigkeiten und Originalitäten nimmt? Wie kommts, daß man jede Erzählung, in welcher die Nothzucht und die Dieberei eine Rolle spielen, für modern ansieht?
[Notes for §14 here]
§15 Die Gesellschaft betrachtet den Landstürzer, die Hure nicht mehr mit unbefangenen Blicken; sie sieht in den Erscheinungen der Noth und „Verworfenheit“ keine Ausnahme mehr, sondern eine Regel, die ihre Gründe, ihre Principien hat; sie erschrickt bei dieser Wahrnehmung: und indem sie die Gefahr ahnt, die ihr durch die immer größere Erweiterung der „niederen Sphären“ droht, sieht sie sich nach Hilfsmitteln um; sie sucht sich eine genauere Kenntniß von jenen Erscheinungen zu verschaffen. Kann sie aber dieselben richtig begreifen? Hat sie die Einsicht und die Mittel, um denselben ein Ende zu machen?
[Notes for §15 here]
§16 Die Gesellschaft, die natürlich nichts Höheres kennt als sich selber und die Lebensanschauungen, in denen sie sich bewegt, sieht in dem Elend und dem Verbrechen bald eine Abweichung von ihr selber, die man zu den Gesetzen der Gesellschaft zurückführen, bald ein Martyrium, das man lindern müsse. Durch die Kategorien der Ordnung, der Tugend und der Anständigkeit glaubt sie jene Zustände heilen zu können. Im Gegensatz zu ihr haben sogenannte communistische Schriftsteller nur für die arbeitenden und leidenden Klassen der Menschheit Augen, und meinen die Gesellschaft nach den Hauptkategorien dieser Klassen, nach denen der Arbeit und der Noth reformiren zu müssen. Beide Gegensätze sind gleich beschränkt, gleich einseitig.
[Notes for §16 here]
§17 Das Elend und das „Laster“ sind eben so erclusiv, eben so aristokratisch, wie die tugendhafte und wohlhabende Gesellschaft. Wohlleben und Elend, Tugend und Laster sind Gegensätze, die einander nicht begreifen, Ergänzungen, die sich bekämpfen. Aus demselben Gesetze der Ausschließlichkeit hervorgegangen, kann sich weder das Eine noch das Andere ganz zur Herrschaft bringen, kann Keines dem Anderen helfen, sind sie die beiden Pole der modernen Gesellschaft, die einander anziehen und abstoßen und deren keiner ohne den andern existiren kann. Man kann dem einen Pol nicht seine Existenz nehmen, ohne dem andern zugleich die seinige zu rauben: und man muß die Lebensbeschaffenheit des ganzen Körpers verändern, wenn man ihm seine polarischen Eigenschaften nehmen will.
[Notes for §17 here]
§18 Schilderungen der Noth und Verworfenheit, welche, wie der Roman Nro. 3. von den Kategorien der Ordnung, Tugend und Anständigkeit ausgehen, werden, da sie ohne kritische Einsicht in die Lebensgesetze des Ganzen sind, nie etwas anderes sein, als Zusammenwürfelungen, und insofern nicht einmal den Anforderungen der Aesthetik genügen.
[Notes for §18 here]
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