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Oppermanns Göttinger gelehrte Anzeigen

Deutsch

Author: Unknown  Year: 1844 

§1 Die Göttinger gelehrten Anzeigen während einer hundertjährigen Wirksamkeit (?) für Philosophie, schöne Literatur, Politik und Geschichte: von Heinrich Albert Oppermann. Hannover 1844. S. 288.
§2 Die G. g. A. sind schon als privilegirtes Organ akademischer Gelehrsamkeit von sehr bedeutendem, kulturhistorischem Interesse, gewinnen aber ein noch bei weitem höheres durch den Umstand, daß Göttingen die Akademieen und Universitäten überhaupt characterisirt und academische Zeitschriften die Neigungen und Abneigungen, das literarische, politische und ästhetische Bewußtsein der Masse weit sicherer darlegen, als einfache, nur concessionirte Zeitschriften, die von Haus aus durch Männer einer bestimmten Parthei begründet ein Princip verfechten und das Bewußtsein der Masse bekämpfen, statt ihm das Wort zu reden.
§3 Die Masse sieht mit aufgeblasener Gleichgültigkeit, wenn sie sich nur sonst eines behäbigen Daseins erfreut, dem Treiben der Phantasten zu, die reelle Interessen hintenanseßend für Principien kämpfen, Krisen herbeiführen und sei es durch ihren Sieg, sei es durch ihre Niederlage Wissenschaft, Kunst und Staatsleben fördern. Sie stillt ihre Neugierde durch historische Notizen, die sie nicht versteht und die noch dazu falsch sind, weil ihr die Bewegung der Zeit ein Räthsel ist und bleibt, weil sie über seine Lösung längst hinaus zu sein glaubt, ist glücklich, wenn man sie nicht nöthigt, sich zu entscheiden, und nur dann gereizt, wenn die Bewegung so mächtig wird, daß sie sich selbst davon wider Willen ergriffen fühlt: verhaßt ist ihr Alles, was sie in ihrer Ruhe stört, jede Epoche machende Erscheinung, die ihr ererbtes Bekenntniß, ihre anerzogene Weltanschauung verrückt oder über den Haufen wirft, denn sie wird dadurch zu geistiger Arbeit genöthigt und diese ist es, die sie scheut, zu der sie sich unfähig fühlt. Die Masse zehrt von der Vergangenheit, in der sie lebt und webt, und die sie ist, an die sie sich um so fester und ängstlicher klammert, je entscheidender der Fortschritt ist, der ihr zugemuthet wird. Ihr Urtheil ist immer schon fertig und sie leugnet, so lange es geht, daß überhaupt etwas geschieht, weiß es oft wirklich nicht und mag es gar nicht wissen; sie ist viel zu weise und dieser Weisheit wegen auch zu stolz, als daß sie sich bereits im Besiß einer fertigen Bildung um die kleinlichen Zänkereien des Tages bekümmern, oder wohl gar Parthei ergreifen sollte. Sie ist viel zu gesetzt, um fortschreiten zu können, beobachtet nur, lächelt und orakelt ein wenig über den Gang der Dinge, und da sie alles weiß und nicht denken kann, so versteht sich ihr zuletzt Alles von selbst. Dies ist der Character der Masse, dies ist der Character der gelehrten Professionisten, der gewiegten Akademiker.
§4 Die G. g. A. haben sich während eines Jahrhunderts, das sie bereits hinter sich haben, niemals über das Bewußtsein der Masse erhoben, immer nur die Rolle der Zuschauer gespielt, sich niemals vorsätzlich eine eigene Meinung zu Schulden kommen lassen und sind nie fortgeschritten, sondern höchstens fortgestoßen worden, so daß ihre Stellung zur Literatur heute noch dieselbe sein würde, wie vor hundert Jahren, wenn die Literatur sich nicht anders zu ihnen gestellt und ihnen von Jahr zu Jahr engere Gränzen gesteckt hätte. Sie sind sich selbst – einige kleine Seitensprünge in gar zu bewegten Zeiten abgerechnet – treu geblieben und das Bewußtsein dieses schönen Characterzuges spricht sich selbstgefällig und oft genug in ihnen aus. Es wäre „Hochverrath an dem ehrwürdigen Altar der G. g. A.“, wollten sie sich mit der Schaar kritisirender Poeten und poetisirender Kritiker der neuesten Zeit, welche ihre Größen und Vorbilder jenseits des Rheines hat – die Wahrheit wächst freilich nur in Deutschland – Frivolität und Verachtung des Heiligen sich als große That zurechnet und das hohltönende Evangelium des Avenir predigt“ nur im geringsten befassen. Nein: die G. g. A. sind viel zu gelehrt, als daß man von ihnen verlangen sollte, sich mit der kleinlichen Geschichte der neueren Zeit, der Julirevolution, der Vorgänge in Hannover, die ihre klassische Ruhe nicht im entferntesten berühren und um ihrer Kleinlichkeit willen an ihre gelehrte Erhabenheit auch gar nicht heranreichen, zu beschäftigen. Diese gelehrte Indolenz ist der Typus der Masse, aber eben deshalb noch um vieles größer, als die Indolenz der Masse, die von den Fragen der Zeit noch näher berührt wird, als der Gelehrte, und durch die Sorge für ihren Wohlstand auch zu größerer Aufmerksamkeit genöthigt wird.
§5 Oppermann konnte in der That zu seinem Zwecke, einen Beitrag zur Kenntniß der öffentlichen Bildung zu liefern, unter allen Zeitschriften keine ergiebigere finden, als die akademischen und unter den akademischen keine brauchbarere als die Göttinger; aber er hätte diesen Schatz auch nach allen Richtungen ausbeuten und von allen Seiten betrachten müssen.
§6 Die G. g. A. bieten aber als akademisches Organ der Betrachtung noch gar viele Seiten dar, die dem Verfasser vorliegender Geschichte gänzlich entgangen sind. Die Geschichte der G. g. A. ist zugleich die Geschichte der Universitäten und der mit diesen verbundenen Akademieen und daher von der größten Wichtigkeit in einer Zeit, in der es sich um diese Anstalten selbst handelt, die Behauptung, daß diese Anstalten an der Spitze der Bildung gestanden hätten oder ständen, von der Kritik in Frage gestellt und verneint wird, und der professionelle Gelehrte sich fruchtlos anstrengt, um zu beweisen, daß er doch wohl wirklich im Stande sei, Fragen, welche die Gegenwart, die Entwickelung der Menschheit betreffen, zu lösen, fruchtlos -- weil er sie nicht lösen kann und darf.
§7 Schlimm für die privilegirten, wissenschaftlichen Institute, daß Oppermann's Geschichte, ohne die Absicht des Verfassers, die von der Kritik bereits verneinte Frage auf historischem Wege durch Belege verneint, schlimm, daß die G. g. A. die wichtigsten Epoche machenden Erscheinungen, wenn sie sich durchaus nicht mehr länger ignoriren lassen, einleiten müssen: Eine Anzeige würde zu spät kommen, nachdem bereits u. s. w. daß sie seit hundert Jahren nur Notizen aus der Geographie, Chronologie, Philologie und Naturgeschichte gesammelt, nur selten und zu ihrer eigenen Verwunderung wirklichen, wenn auch nur schwachen Antheil am Kampf gegen die Entwickelung des Geistes genommen, keine neue Idee ausgesprochen, oder vertheidigt, niemals eingegriffen, bekämpft, weitergeführt, immer nur referirt und sich vor dem Einfluß großer Männer und Zeiten, so lange und so weit es möglich war, abgeschlossen haben, so daß ihnen heute noch Haller's Vorrede vorgedruckt werden kann und Heyne heute noch recht hat, wenn er sagt: „Die G. A. haben sich in einem gesetzten ernsten Tone erhalten mitten unter allen Veränderungen unserer Literatur,“ in einer Zeit, in der die großartigsten Kämpfe auf dem Gebiete der Theologie, Politik und Kunst begannen und zum Theil entschieden wurden.
§8 Unter hoher und höchster Protection, mit unterthänig devotester Dankbarkeit und Attachement an die hochgestellten Personen referiren die Herren Jahr aus Jahr ein, behutsam ängstlich, vorsichtig, einsichtsvoll und geschmeidig in die von oben her angedeuteten Wünsche eingehend, ja zuvorkommend, loben Alles, auch das Schlechte, wenigstens bedingungsweise – Apologie der Gräfin Lichtenau – denn auch der Geringste könnte ihnen über kurz oder lang einmal schaden, protegiren die Mittelmäßigkeit und ignoriren mißliebige Namen und Schriften. Nur die Vergangenheit ist für sie von Interesse und die Principienkämpfe der Gegenwart gleichgültig; alles, was von der Entwickelung der Menschheit fern abliegt, liegt ihnen nahe und alles, was nur ein untergeordnetes Interesse in Anspruch nehmen kann, nimmt sie völlig in Anspruch und was in die Gegenwart eingreift, ergreift sie wenig oder gar nicht; ja, sie leugnen die Entwickelung der Menschheit überhaupt und ihre Wißbegierde ist die Neugierde der Hohlheit, die sich durch unzählige Einzelheiten und nichtsnußige Notizen zu sättigen strebt. Sie sind selbst zur Opposition viel zu schwach und sehen daher den Bewegungen der Zeit nichts entgegen, als die gutmüthig-vornehm anerkennende Opposition des Unverstandes -- Feder gegen Kant -- und in der neuesten Zeit einige Seufzer und Gottvertrauen -- Lücke gegen Strauß. -- Ihr Ideal ist der gemeine Menschenverstand, ihre Tugend die Schwachheit und ihre Stärke ihre Abgeschlossenheit in den erhabenen Regionen des Gedächtnißkrams, positiver Gelehrsamkeit. Kleine Reibungen und Nichts und wieder Nichts genügen ihnen und erwärmen sie, aber Entscheidungen im Großen, wie im Kleinen erschrecken und erkälten sie. Bestimmte Meinungen empören ihre „milde Gesinnung,“ sind ihnen „zu hart, zu stark, nicht gemäßigt genug,“ ja sie würden nicht einmal gegen Kant aufgetreten sein, wenn er sich nur „gemäßigterer Ausdrücke“ bedient hätte.
§9 Sie rechnen sich selbst zur Masse, denn sie bekennen in ihren Anzeigen hundertmal, daß sie von Ideen nicht das geringste wissen wollen, daß ihnen der ganz gemeine Menschenverstand eben recht ist und der Nusen, die Praris, der Vortheil die einzigen Kategorien sind, in denen sie sich mit Sicherheit bewegen! Was sie unter dem Nüßlichen verstehen, zeigt schon die Verachtung der Idee, das, was in den kleinstädtischen Haushalt gehört. Die Lückenbüßer lehren es offen: Wanzenvertilgung, das Ganze der Destillation, die Behandlung des Düngers. Ja, sie sind auf ihren Nusen, ihre Aemter, Besoldungen, Titel und Orden so ängstlich bedacht, daß ihnen selbst Ideen wie Vaterland, Deutschland, Freiheit im Sinne angestammter Fürstenherrschaft keinen Pfifferling werth sind. Haben sie nicht die größte Freiheit in ihrer Studirstube, ist es ihnen denn verboten, die Ereignisse zu beobachten und bescheiden zu erzählen oder noch bescheidener zu verschweigen, Curven zu berechnen und über unentdeckte Lesarten und Insecten zu deliberiren? -- Als Deutschland sich gegen Frankreich erhob, um seine angestammten Throne zu retten, da klagten sie über phantastische Ideen und leere Deklamation, da fragten sie Arndt: welche weise Rathschläge giebst du? versicherten, sein Buch komme nicht zur rechten Zeit und streue den Saamen in ein unvorbereitetes Erdreich. Als sie sich aber der allgemeinen Stimmung nicht mehr länger erwehren konnten, da entschuldigten sich die Perrüquen, „wenn hie und da nach der individuellen Stimmung des Einen oder des Anderen eine scharf bestimmte Meinung, ein mit unangenehmer Wärme vorgetragenes Gefühl etwa vorkommen sollte,“ und verwahren sich dagegen, „daß man diese Wärme, diese Bestimmtheit etwa als eine vollständige Umlenkung im Tone dieser ruhig bescheidenen Blätter ansehen möchte.“
§10 Oppermann ist weit entfernt, die Wichtigkeit Göttingens als Typus auch nur zu ahnen, geschweige auszuführen und den Grund, warum die G. g. A. den Charakter der Gleichgültigkeit gegen Alles wahrhaft menschliche an der Stirne tragen, in ihrer Stellung zu suchen. Er führt im Gegentheile Heeren's Vertheidigung der gelehrten Hochschulen vom Jahre 1834 an und zwar mit der Absicht, diese Stütze der Universitäten aus ihrer Verborgenheit hervorzuziehen; und gewiß, diese Vertheidigung ist schlagend und verräth einen tüchtigen Advocaten. Heeren führt zum Beweise, daß die Universitäten nicht mittelalterliche Institute sind, an, daß nur zwei im Mittelalter gegründet sind, beweis't, daß sie, was ihren Unterrichtskreis und ihre Organisation betrifft, fortgeschritten sind, aus der vermehrten Zahl der Lehrer und den neu errichteten Kliniken und Museen, findet in der Entfernung der lateinischen Sprache aus den Vorträgen die wesentlichste Verbesserung von Methoden und sagt unter Anderm: „weit gefehlt, hinter den Bedürfnissen der Zeit zurückzubleiben, hielten sie mit diesen, so viel sie vermochten, gleichen Schritt, gingen oft dem Zeitalter voran, denn die Bildung fast aller Wissenschaften ging von ihnen aus und es gab fast keine einzige — wir wollen nur an die Naturwissenschaften erinnern — die nicht allmählig in ihren Lehrcyclus aufgenommen wäre.“ Die Unwahrheit dieses, unzählige Widersprüche friedlich vereinigenden Sazes braucht hier erst nicht nachgewiesen zu werden, so wenig, als das Lob, das Grimm der Unabhängigkeit der lehrenden und lernenden ertheilt, die eigentliche Frage berührt. (Siehe das nächste Excerpt bei Oppermann.)
§11 Oppermann sucht den Grund, warum die G. g. A. so notizenreich und gedankenleer sind, und um so größeren Fleiß auf die Medicin, Mathematik, Naturgeschichte und die Geschichte des Mittelalters verwenden, sich aber immer weniger um Philosophie, Politik und Dichtkunst bekümmern, je älter sie werden, nur in Göttingen, in der Luft Göttingens, in den Persönlichkeiten. Dieser habe das Geld zu lieb, jener sei durch widrige Schicksale von Jugend auf dazu angeleitet worden, geschmeidig in die Wünsche der Vorgesetzten einzugehen, dieser wolle Geheimerath, jener Hofrath oder sonst etwas bei Hofe werden. Allerdings sind auch diese Charakteristiken sehr schätzenswerth und die Kritik darf sie nicht unbeachtet lassen; die Geschichte der von einer Corporation unzertrennlichen vetterschaftlichen Intriguen und interessirten Wechselheirathen im Schooße der Fakultäten, der Verläumdungen, Verfolgungen und akademischen Umtriebe aller Art in ganz gemeinem Interesse, der Rescripte der Regierungen an einzelne Professoren, ganze Fakultäten, und an die Curatorien über den legalen Stand derselben — eine betrübte Geschichte, auf die auch Oppermann hinweist, würde den wissenschaftlichen Heiligenschein auch für das blödeste Auge zerstreuen und dem Geschwätze von Wissenschaftlichkeit, freier Wissenschaftlichkeit, freier Forschung, Lehrfreiheit, und wie der Bombast weiter lautet, ein plötzliches Ende bereiten. Wir haben aber weder die Kenntniß der Persönlichkeiten, noch der Chronique scandaleuse der Musensiße nöthig, weder um das Göttinger Intelligenßblatt zu erklären, noch um zu beweisen, daß die Musensiße nicht die Siße freier Forschung sein können. Jene Männer, in denen Oppermann den Grund der Abneigung und Gleichgültigkeit gegen jede Idee und die Entwicklung der Menschheit steht, verdanken vielmehr ihre Stellung dem Wesen der Universitäten und dieses hätte der Verfasser seinen Untersuchungen zu Grunde legen sollen und er würde dann auch, wenn er schon überhaupt Auszüge statt einer Verarbeitung geben wollte, ganz anders ausgewählt haben; doch wir kommen hierauf noch zurück. Oppermann greift aber nur Einzelnheiten auf und zeigt besonders am Schlusse, daß er weder Göttingen, noch die Universitäten kennt. Dort ruft er in wahrhaft komischer Weise, nehmlich ernsthaft, die Mitarbeiter der G. g. A. auf, ihr Programm vom Jahre 1837, in welchem sie davon gesprochen hatten, daß sie sich an die Spitze ihrer Zeit, diese lenkend und läuternd stellen wollten, zur Wahrheit werden zu lassen, damit, fährt Oppermann fort, ihre Aussprüche von Philosophen, Gelehrten, Staatsmännern und Dichtern hochgehalten würden.
§12 Sonderbare Zumuthung! Werdet über Nacht große, geistvolle Männer! Ist es denn nicht der deutlichste Beweis der Schwäche, wenn man sich vor den Zeichen der Zeit nur dadurch zu retten sucht, daß man sich blind stellt, in der Flucht den Sieg sieht, durch beharrliches Ignoriren widerlegt und die Verwirrung dadurch löst, daß man sie Ordnung nennt, die Resultate der Kritik dem Himmel anheimstellt und zu Gunsten der Wahrheit an das Herz appellirt? Ist nun Oppermanns Forderung offenbar unbillig, so ist auch sein Tadel auf der andern Seite ungerecht. Er sagt: „Sie müssen Parthei ergreifen, wenigstens den Standpunkt Göttingens, welchen es einmal einnimmt, energischer und lebhafter vertheidigen.“ Als ob sie nicht ein Jahrhundert hindurch ihren Standpunkt auf das lebhafteste, auf das energischste vertheidigt hätten! Ist nicht der deutlichste Beweis davon die Thatsache, daß sie ihn noch immer behaupten? Aber ihre Energie ist freilich nur die Beharrlichkeit in der Indolenz und ihre Lebhaftigkeit die Sorgfalt in der Abhaltung jeder Störung, und in diesem Sinne werden sie auch unaufgefordert immer energischer und lebhafter werden; sie und mit ihnen auch die übrigen akademischen Zeitschriften; nur dadurch von diesen unterschieden, daß die Steigerung bei ihnen unmerklicher sein wird, weil sie sich weniger, als die übrigen, über ihr eigenes Wesen getäuscht und im Grunde nicht viel mehr, als ein Repertorium haben sein wollen. Statt sich zu erheben, wie Oppermann hofft, werden sie und die übrigen gelehrten Anzeigen vielmehr sinken, zu Materialiensammlungen für die Wissenschaft werden, statt in die Gegenwart einzugreifen, sich immer weiter in die Vergangenheit aus der drückenden Gegenwart, in die Medizin, Mathematik und in die Sterne, in die „ewige Ordnung der Dinge, die oben geschrieben stehet“, wie Lücke so schön sagt, flüchten, vor der Pest, dem Göttinger Euphemismus für Philosophie, sich immer sorgfältiger abschließen und die Kritik nur mit dem Rücken ansehen. Aus ihren Recensionen wird sich das geängstigte Gemüth immer vernehmlicher, ja noch rührender als gegen Kant und Strauß vernehmen lassen; sie werden ihre hochtrabende Tendenz vom Jahre 1837 ganz aufgeben müssen, wenn sie diese nicht etwa, wie ehemals durch die Anzeige practischer Anleitungen zur Parmesan-Käse-Bereitung, verbesserter Ofenröhren und moralischer Betrachtungen über die Bildungsfähigkeit der Jungfrauen zu erfüllen und wie Heyne über seine eigene Redaction sagt, dem Zeitalter des herrschenden Sclavensinnes und Schmeicheltones ein Genüge thun und doch die Würde eines gelehrten Corpus behaupten zu können glauben.“
§13 Was Oppermanns Bearbeitung im Besonderen betrifft, so haben wir uns, die akademische Stellung ganz bei Seite gesezt, überhaupt nach einem zu Grunde liegenden Principe umsonst umgesehen. Der Verfasser sagt zwar Vorrede S. V. selbst, daß die Mannigfaltigkeit die Abrundung störe und das Nüglichkeitsprincip der Absicht, einen mit historischer Kunst geschriebenen Beitrag zur Literaturgeschichte zu liefern, offenbaren Eintrag gethan, und Seite 32 geht er in seiner Selbstkritik noch weiter, allein weder die Mannigfaltigkeit, noch das Nüglichkeitsprincip, konnte ihn hindern, ein Princip bei seiner Auswahl zu verfolgen. Er sagt ganz im Allgemeinen, er wolle die wichtigsten und vorzüglichsten Recensionen mittheilen. Oder liegt das Princip in der unbestimmten Floskel: interessant? So leitet er mehrere Excerpte ein: „höchst interessant ist“ u. s. w., „Es wird unsern Lesern interessant sein, das Urtheil der Göttinger“ über dies und jenes zu hören.
§14 Dem Verfasser scheint hauptsächlich, wie aus S. 32., wo er sagt, er habe es vorgezogen, die Geschichte der G. g. A. durch die Auswahl der Recensionen über die Hauptträger der verschiedenen Disciplinen nur anzudeuten, und Seite X. wo er bemerkt, daß die Bouterweck'sche Recension über Schiller allen bisherigen Literaturhistorikern entgangen sei, hervorgeht, die Zusammenstellung der Göttinger Recensionen über die ersten Größen der Literatur und der Göttinger Ansichten über die politischen Bewegungen der Jahre 1789-1815 von Interesse gewesen zu sein; an diesen Excerpten führt er die Geschichte der Zeitschrift selbst fort, die Excerpte mit treffenden Bemerkungen über den Character der Redactoren, der einzelnen Mitarbeiter, der recensirten Schriftsteller, deren Stellung zu Göttingen und ihre sonstigen Leistungen bald begleitend, bald verwebend; auch häufig genug durch moralische Betrachtungen über die „noble, ehrenhafte“ Art und Weise zu recensiren mit Rücksicht auf die heutige, auf die er nicht gut zu sprechen ist, ganz unnüß unterbrechend, weßhalb wir das über sein Raisonnement gefällte Urtheil, Vorrede S. V., unterschreiben. Das Material ist uns in der That lieber, als solches Raisonnement.
§15 Der Verfasser sagt, es sei ihm nicht ganz mißlungen, ein nüzliches Buch zu schreiben. Nicht ganz! Gewiß nicht, sein Buch ist sogar sehr nüßlich, da die Geschichte der Zeitschriften nicht nur nüßlich, sondern sogar nothwendig ist. Und doch ist es ihm nur „nicht ganz“ mißlungen, selbst wenn wir den Nußen nur darin sehen wollten, daß sein Buch: „das Lesen von 300 Bänden erspart.“ (S. V.) Daß er das einzige, aber doch zugängliche Exemplar, in welches die Namen der Recensenten von Heyne eingetragen sind, nicht eingesehen hat, ist freilich ein Mangel, aber doch nicht von der Bedeutung als er, dem es sich überhaupt viel zu viel um Persönlichkeiten handelt, selbst meint. Sein Buch erspart aber das Lesen von 300 Bänden in der That nicht, denn so wichtig und interessant es auch ist, zu wissen, wie man gerade in Göttingen berühmte Schriftsteller besprach und die Geschichte der Zeit beurtheilte oder beides nicht that, wollen wir den Werth und die Bedeutung der Göttinger gelehrten Anzeigen zum Behufe einer allgemeinen Culturgeschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts genau bestimmen und diese Zeitschrift wirklich nach allen Richtungen ausbeuten, da sie allerdings eine sehr wichtige Quelle ist, aus der das Bewußtsein der Zeit „begriffen werden kann,“ so dürfen wir uns die Mühe doch nicht verdrießen lassen, die Quelle selbst nachzuschlagen. Es handelt sich hier mehr um die „Masse unbedeutender, oberflächlicher, vergessener Bücher,“ über die der Verfasser nur in einem Ausruf S. 132 Meldung thut, und mit denen doch die G. g. A. „liebäugelten,“ als um die Gutachten über einzelne bedeutende, tiefe, berühmte Werke.
§16 Endlich, wie konnte der Verfasser die Theologie gänzlich von seiner Arbeit ausschließen, der er doch wenigstens ein ebenso fleißiges Studium hätte widmen müssen, als der sogenannten schönen Literatur! Boten die Recensionen eines Stromeyer, Walch, Mosheim, Heilmann, Leß gar nichts, woraus sich auf die „öffentliche Bildung“ schließen läßt? Ganz am Schlusse die Jahre 1839-42 sind überhaupt gar nicht behandelt, da die G. g. A. schon 1739 gegründet wurden, aber man erfährt auch nichts von den Jahren 1837 und 1838 — sollen ein Paar sehr komische Stellen aus Lücke's Recension des Lebens Jesu und ein Paar S. 11, 12 gelegentlich angebrachte theologische Anekdoten wahrscheinlich beweisen, daß man an der Theologie wenig verloren habe; diese Stellen und diese Anecdoten beweisen aber gerade das Gegentheil, denn von jener Sicherheit in den funfziger Jahren, welche die Paradiesesschlange zu derjenigen Art der Drachenschlange, die Bochart, der Verfasser des Hierozoikon, in einem Briefe an Capellum erwähnt, rechnete, bis zu der Unbestimmtheit, die sich an das Evangelium anklammert, statt an die Evangelien und die Widerlegung der Kritik der frohen Botschaft aus Judäa selbst überläßt, muß doch wohl eine recht lehrreiche Geschichte der G. g. A. zu verfolgen sein. Oder liegt die Theologie dem „literarischen Bewußtsein“ S. IV. überhaupt fern, obgleich der Meßkatalog zeigt, welche reiche Literatur sie besißt? Der Verfasser glaubt es in der That, denn sein Zweck auf S. IV. ist ganz allgemein, und der Titel schließt die Theologie wie die Medizin, die Philologie und die Naturwissenschaften aus. Eines Bessern konnte ihn aber schon der Einfluß der Theologie auf die Medizin, Philologie und die Naturwissenschaften belehren, Wissenschaften, die sämmtlich, zumal die Naturwissenschaften erst der Kritik des vorigen Jahrhunderts ihre Entstehung verdanken. Wir begegnen hier wieder der allgemeinen, falschen Ansicht, nach welcher die Theologie eine zunftmäßig abgeschlossene Wissenschaft“ ist, die auf die allgemeine Bildung gar keine und auf die anderen Fakultäts-Wissenschaften höchstens äußerlichen Einfluß (S. 11) ausübt, über die man hinaus ist, und die man sich demnach nur in ihrer besondern Form als Fakultätswissenschaft vom Leibe zu halten hat, um auch nicht im entferntesten von ihr berührt zu werden. Vergleiche eine Aeußerung Heyne's S. 80 vorliegenden Buches: „den Gang des menschlichen Verstandes in theologischen Ungereimtheiten wissen wir so ziemlich.“ Dem Verfasser liegt aber die Theologie viel zu fern, als daß er aus den kritischen Studien unserer Zeit gelernt haben sollte, wie nahe sie ihm und der Menschheit überhaupt liegt, daß sie alle Wissenschaften, Künste und das Leben der Völker beherrscht.
§17 Umfaßt nun auch vorliegende Geschichte die G. g. A. weder nach ihrer ganzen Breite, noch in allen ihren Beziehungen, Mängel, die sich gegenseitig bedingen, so übersehen wir doch auch ihre großen Verdienste nicht, und heißen sie willkommen. Sie beweist von neuem die Nothwendigkeit des Studiums der Zeitschriften und wird daher anregen. Dem Verfasser gebührt für seinen Vorgang, denn was bisher für dies Studium geschehen war, ist gegen die Leistung Oppermanns gehalten, sehr dürftig, für seine mühevolle, zeitraubende und sehr fleißige Arbeit, welche für die Literaturgeschichte jedenfalls einen sehr wichtigen und nützlichen Beitrag liefert, nicht nur eine, sondern mehrere neue Quellen eröffnet; der Verfasser hat auch Originalbriefe zu benußen Gelegenheit gehabt, die größte Anerkennung. Besonders der Abschnitt: Historie und Politik von 1770 - 1813, der auch mit besonderer Sorgfalt bearbeitet ist, und – aus welchem man sieht, wie das Göttinger Princip der Stabilität einem großen Schritte der Geschichte gegenüber zum Bewußtsein kommt und dieses Bewußtsein sich systematisch ausbildet, muß hier hervorgehoben werden; er umfaßt die Geschichte der geistigen Bewegungen einer Zeit, deren Resultate die Zukunft erst bringen soll, die Zukunft, in der aber vorerst das Göttinger Princip seinen Sieg feiern wird. Unbeachtet darf seine Geschichte der G. g. A. Niemand lassen, der der Literatur der neuern Zeit seine Studien widmet.
§18 Ernst Jungniß.
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