§91
Ich wundere mich selbst, wenn, wie ich in Herrn Wönigers Schrift lese, im Monat Mai vergangenen Jahres in Berlin 200 uneheliche Kinder zur Welt gekommen sind, die alle von den Tanzböden herstammen sollen, daß immer wieder welche da sind, die forttanzen; überhaupt ist der Staat, den die Mütter dieser Kinder auf den Tanzböden machen, oft so groß, daß eine Beschreibung davon kein Edelmann glauben würde, wenn er sich nicht mit eigenen Augen überzeugte. — Es scheint beinahe so, als ob der Teufel unter die Mädels gefahren ist..... Die jungen Männer legen sich die abentheuerliche Frage vor; wo sie unter bewandten Umständen noch eine ordentliche Frau hernehmen sollen. Leicht mag es nicht seyn, eine solche zu kriegen. Uebrigens wird diese kleine Bedenklichkeit auch noch bei Seite geschoben, wenn die junge Dame mit dem Kinde oder ohne das Kind nur Geld hat. Es ist für das Ganze eine brutale Geschichte, daß das Geld der Hauptgötze geworden ist und daß dieses Geld auf dem alten ehrlichen Wege nicht mehr zu verdienen ist. Wenn das noch wäre, dann möchte ich die Meinung des ganzen vorigen Jahrhunderts als Zeuge auffordern, ob man wohl bei dem selbstthätigen deutschen Volke Ursache hätte, über selbstverschuldete Noth und Sittenlosigkeit zu klagen. Nun aber, da der Egoismus mit dem Gelde so gewirthschaftet hat, daß der ganze Mittelstand vernichtet und an den Bettelstab gelangt ist, weiß man sich nicht besser zu helfen, als die Schuld von des Volkes Verzweiflung auf dessen Leichtsinn zu schieben, sind sogar die Leihbibliotheken und Liebhabertheater die Pestbeulen des bürgerlichen Wohlstandes geworden. Bücherlesen und Schnapstrinken ist noch kein Grund der Verarmung. Das Beispiel aber, was die Selbstsucht zu geben weiß, das ewige Reden von Solidität und dabei doch so rücksichtslos und erbärmlich handeln, daß selbst dem Dümmsten, welcher über das allgemeine Interesse nicht zu politiren weiß, endlich die Augen aufgehen, daß selbst, sage ich, der Dümmste sich die Frage vorlegt, ob es mit rechten Dingen zugeht, daß der eine Alles hat und der andere gar nichts, daß der eine schwelgt und der andere verhungert, darüber eilt man bei einer Untersuchung über die Gräuel der Armuth schnell hinweg.
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