§1
Gegen Ende der dreißiger Jahre, bald nachdem Parent Duchatelet die Prostitution von Paris von medicinischem Standpunkte aus beleuchtet hatte, gab Beraud ein Buch heraus: „les filles publiques de Paris et la police, qui les régit. Par F. F. A. Béraud, excommissaire de police de Paris, chargé specialement du service actif de l'attribution des moeurs; précédées d'une notice historique sur la Prostitution chez les divers peuples de la terre, par M. A. M. membre de plusieurs sociétés savantes.“ Zwei Theile.
§2
Warum wir das Buch jezt besprechen? Nicht um jener Modenarrheit willen die jezt so ziemlich ihre Epoche gehabt hat, welche auf eine Zeit lang den Glace-Handschuh parfümirter Damen mit der schmußigen Hand des Freudenmädchens in Berührung brachte, nicht jenes anatomischen Interesses wegen, welches der fein gewachsene Civilisirte eine Zeit lang an der Mißgeburt nimmt, auch nicht um jener Weiber selber willen, deren Körper zu Gelderwerb-Maschinen geworden sind; nicht der interessanten Facta wegen, welche Beraud mittheilt und welche bei aller schiefen Auffassung doch einen Blick in die Organisation der Gesellschaft thun lassen. Wer Facta haben, wer Erfahrungen machen will, der braucht sie nicht aus Büchern zu nehmen: ist es ihm ernst um die Gesellschaft, so lege er auf einige Zeit die Schaam der Civilisation bei Seite, welche am liebsten die Existenz der Verworfenheit ignoriren möchte und es höchstens zu einem Naserümpfen, zur Verachtung, zum Abscheu bringt: er begebe sich zu jenen Weibern, er studire ihr Leben, ihren Charakter, ihre Ansichten. Ihr könnt in Berlin Erfahrungen genug machen: Ihr könnt jene zarten Wesen beobachten, die so sittsam, so sylphengleich über die Straße dahergleiten und euch höchstens durch einen frivolen, verführerischen Blick ihr Gewerbe ahnen lassen, bis zu jenen schmutzigen geschminkten Dirnen, die euch gleich mit einer Obscönität in die Arme fallen. Seid ihr aber zu civilisirt, um selber diese Erfahrungen zu machen, gut, so seid ihr auch kaum werth, daß man euch eigene Erfahrungen vortrage, ihr würdet sie doch nicht verstehen, nicht zu würdigen wissen.
§3
Es kommt mir vor Allem auf den Standpunkt an, aus dem Beraud die Stellung der Freudenmädchen zur Gesellschaft auffaßt und auf Abänderung der Hurenverhältnisse dringt: ich will euch seine leitenden Ansichten in wörtlicher Ueberseßung geben: ihr werdet euch in vielen Phrasen wiedererkennen.
§4
„Möge man in dieser Schrift die Ansichten eines Ehrenmannes anerkennen, das ist all mein Ehrgeiz. In der That, die Lockung zur Ausschweifung vernichten, indem man sie, so viel wie möglich, aus offener Straße verbannt; die Hurerei in Grenzen zurückdrängen, daß sie die Schaamhaftigkeit nicht empöre; die verderblichen Folgen dieser fressenden Gesellschaftswunde schwächen: das ist der beständige Wunsch meines Herzens, das ist der Zweck meines Buches.“
§5
M. A. M., das Mitglied mehrerer gelehrten Gesellschaften, welches dem Buche Berauds eine historische Einleitung gegeben hat, fängt mit Erschaffung der Welt an: „die Hurerei, sagt er, steigt bis zum Anfang der Welt hinauf.“
§6
„Was er eigentlich unter „Prostitution“ verstehe, sagt uns dieser Geschichtschreiber nicht: so viel scheint aus seiner Darstellung hervorzugehen, daß er jeden eines fremden Zweckes oder eines fremden Antriebes wegen unternommenen Beischlaf Hurerei nennt; so rechnet er denn auch die Unzucht, welche im Namen der Göttin Succoth Benoth an den Thüren Babylonischer Tempel getrieben wurde, zur Prostitution.
§7
Das ganze alte Testament bietet unserm Historiker Beispiele von Prostitution: David, Ammon, Salomon, Absalon, Esther u. s. w., sie alle spielen in seiner Geschichte „eine Rolle.“
§8
Indem er nach Europa übergeht, sagt er: „die Hurerei war in Europa bald gestattet, bald begünstigt, verboten oder geduldet; und sie hat sich bei allen Fortschritten der Civilisation, ungeachtet der strengsten Polizeimaßregeln erhalten, ja vielleicht in ihrem Wachsthum vermehrt; sie erschien immer als ein nothwendiges Uebel und als Tugendhort für honette Frauen.“
§9
In Bezug auf die jeßige Pariser Prostitution sagt er: die zu Paris geborenen Freudenmädchen sind fast alle aus der Classe der Arbeiter: ein Viertel derselben besteht aus natürlichen, ein Theil aus ausgesetzten Kindern. Fast alle haben unordentlich gelebt,ehe sie sich bei der Polizei einschreiben ließen; die Faulheit und Putzsucht sind die bedeutendsten Ursachen ihres unordentlichen Lebens: sie wollen sich doch auch einmal ein vergnügtes Leben verschaffen. Indessen ist das Elend auch eine der wirksamsten Triebfedern der Prostitution. Eine große Menge Mädchen, verlassen von ihren Familien, ohne Verwandte noch Freunde, muß sich prostituiren, um nicht Hungers zu sterben. Parent Duchatelet erzählt von Einer, welche drei Tage gehungert hatte, ehe sie den verzweifelten Entschluß faßte, sich als Freudenmädchen einschreiben zu lassen. Auch giebt es in Paris junge Mädchen, welche, weil sie in ihrer täglichen Arbeit keine hinlänglichen Mittel finden, um ihre alten und schwachen Eltern zu ernähren, Abends das Gewerbe eines Freudenmädchens treiben und so das Fehlende ersetzen. Das hindert aber nicht, sie die verworfenste Menschenklasse zu nennen.
§10
So viel von dem Geschichtschreiber der Prostitution: gehen wir jezt zum Räsonnement Beraud's über.
§11
Beraud spricht zuerst von der Arbeit Parent Duchatelets, welcher die Prostitution rein wissenschaftlich und medicinisch behandelt hatte. „Ich begreife nicht, sagt er, daß Parent Duchatelet eine Arbeit, welche durch die ehrenwerthesten Absichten eingegeben war, mit den Worten schließt: „das Handwerk einer Hure ist also, die syphilitischen Krankheiten ausgenommen, an und für sich selber gar nicht ungesund.“ Selbst wenn an dieser Vermuthung etwas Richtiges wäre, hätte er sie im Interesse der Moral verschweigen sollen.“ Was haben wir also von Beraud zu erwarten? Er wird uns manche Wahrheit aus Moral verschweigen, vom Standpunkte der Moral ausgehend und urtheilend wird er uns die Hurerei nur von ihrer unmoralischen, d. h. von ihrer abschreckenden Seite darstellen wollen; er wird auf sie selber als auf ein charakteristisches Factum, als auf einen Bestandtheil des Bestehenden nicht eingehen, nicht gründlich ihren Zusammenhang mit dem Bestehenden nachweisen können, er wird vielmehr der Moral ein Bild vorhalten, an dem sie sich ärgere, aber zugleich durch ihren Aerger erhebe. „Meine Arbeit wird eine Leuchtwarthe sein, um den vernünftigen Theil der Gesellschaft aufzuklären und ihn vor den Klippen zu warnen, die ihn umringen. Ich muß es also den Familienvätern gar sehr ans Herz legen, mein Buch mit Andacht zu lesen, um sich selbst und die Personen, welche sie umgeben, richtig leiten zu können.“ „Es ist von vorzüglicher Wichtigkeit, daß meine Schrift in den Händen derjenigen sei, die durch ihren schwachen Charakter, ihre nervöse Organisation der Verführung ausgesetzt sind.“ Beraud stellt sein Buch und den Gegenstand von vornherein in Zusammenhang mit der Moral, aber er ist nicht fähig, die tiefere Beziehung zwischen Beiden zu entdecken.
§12
Er geht noch weiter, er sagt: „die Regierung muß die Hurerei zum Schutze der sittenreinen Frauen dulden. Die Prostitution ist, troß ihrer Immoralität, der Tugendhort für den größern Theil jenes Geschlechtes, das unserer Achtung und Ehrerbietung so würdig ist.“
§13
„Das Wort Hurerei schließt Alles in sich, was es an Verworfenheit im Vergessen seiner selbst giebt; das ist der niedrigste, verächtlichste Zustand, in den ein Mensch verfallen kann, in der That, Nichts unreineres, als ein Mädchen oder ein Weib, welches in der Gesellschaft von lauter Mustern von Anstand umgeben ist und doch, auf einmal ein heilsames Band zerreißend, sich so weit herabwürdigt, daß sie auf offener Straße die Vorübergehenden zur Ausschweifung auffordert.“ Und diese extreme Unreinheit dient, wie Beraud gestehen muß, zum Tugendhorte der Sittenreinheit.
§14
Indem nun Beraud zu den Anlässen übergeht, durch welche junge Mädchen dahin getrieben werden, sich selbst preis zu geben, werden ihm diese „verworfensten Geschöpfe“ mit einmal zu „Unglücklichen“. Sein Gemüth erweicht sich. „Die Unglücklichen! sagt er, sie kämpfen gegen die Nothwendigkeit, bis all' ihre Hilfsquellen erschöpft sind, dann bleiben ihnen nur zwei Auswege: der Selbstmord oder die Prostitution.“ Jene Verworfenheit ist also eine sehr unfreiwillige.
§15
Im Anfange des dritten Kapitels giebt Beraud eine Schilderung derselben: „das Freudenmädchen ist, mit wenigen Ausnahmen, eine Mißgeburt: man kann bei ihr die Schönheit ihres Geschlechtes finden, aber die Zartheit, die Feinheit desselben hat sie eingebüßt. Ihre Sinne sind durch Ausschweifungen aller Art abgestumpft, ihr Charakter ist durch das viehische Wesen der Männer, denen sie sich preisgiebt, verkränkelt. Ihre herausfordernde Sprache ist von einer fast blödsinnigen Zügellosigkeit; ihr Herz ist ohne Liebe, fie spielt die Leidenschaftliche, ohne das geringste Verlangen zu empfinden, und ihr ganzes Benehmen ist eine Lüge. Eine bloß ausschweifende Frau ist dem Freudenmädchen weit vorzuziehen, denn die erstere hat doch wenigstens eine wirkliche, wenn auch nur thierische Empfindung.“
§16
„Die prächtigsten Freudenmädchen sind die Courtisanen: das sind diejenigen, deren leichter Tilbury oder eleganter Landauer den Ehrenmann zu Fuße mit Koth bespritzt; diejenigen, welche unseren sittsamen Gattinnen und Töchtern ein Aergerniß geben, welche nur zu oft so vielen Häuptern ehrenwerther Familien den Untergang bereiten und die Ehre rauben.“
§17
„Die Courtisanen kann man mit jenen Meteoren vergleichen, welche nur einen Augenblick glänzen. Nicht selten sieht man sie, die am Morgen so schön waren, am Mittag ihres Lebens in den Gelagen der Ausschweifung, bis sie dann an die Ecke einer Straße hinabsteigen, um sich allen Schamlosigkeiten der Prostitution hinzugeben.
§18
„Dieser allmälige Verfall ist unvermeidlich, und das ist recht, denn das Glück, in dem sich die galante Frau berauscht, die Vergnügungen, von denen sie umgeben ist, und die Verehrung, deren Ziel sie ist, würden für das Geschlecht im Allgemeinen ein zu gefährliches Beispiel sein. Gott sei Dank, der Triumph des Lasters ist von kurzer Dauer, sein Verfall ist reißend, und es ist unmöglich, den erschrecklichen Folgen der Entsittlichung zu entgehen. Siehe da das Palladium der Sittlichkeit, selbst in den verderbtesten Zeiten; die anständigen Frauen finden hierin zugleich ihren Trost; ihre Tugend befestigt sich durch die Achtung, die Rücksicht, die Liebe, welche sie einflößen, und sie können ohne Neid auf den ärgerlichen Triumph eines Augenblickes schauen, einen Triumph, der mit Elend und Ehrlosigkeit bezahlt wird.“
§19
Es giebt polizeilich eingeschriebene, anerkannte, und nicht eingeschriebene, heimliche Freudenmädchen in Paris. Die ersteren belaufen sich auf viertausend. Sie zerfallen wieder in einzelne Unterabtheilungen.
§20
„Das Liebesmädchen bekommt von der Wirthschaftshalterin kein baares Geld; sie wird eben bekleidet und beköstigt. Sie ist auf Geschenke angewiesen, daher macht sie unglaubliche Anstrengungen, um den Anträgen gewisser Männer zu genügen. Welche Quelle von Ekel! Auf welche Stufe der Entwürdigung muß sie nicht hinabsteigen. Wie sehr ist schon der bloße Gedanke daran geeignet, junge Mädchen am Rande des Abgrundes anzuhalten.“
§21
Die zweite Claffe der polizeilich eingeschriebenen Freudenmädchen sind die numerirten Mädchen. Diese zahlen der Wirthschaftshalterin eine gewisse Pension für Kleidung, Speisung, Wohnung: der Ueberschuß ihres Verdienstes gehört ihnen.
§22
„Die Stellung des numerirten Mädchens kann weniger haltbar werden, als die der Liebesdirne, denn während die letztere ohne Beunruhigung lebt und sich nicht um ihre täglichen Bedürfnisse zu bekümmern braucht, ist die erstere in ewiger Angst um Broderwerb. Wie unglücklich ist sie, wenn sie für ihre Waare keine Käufer findet! Ihre Schulden wachsen und die Wirthin quält sie vom Morgen bis zum Abend. Kommt nun eine Krankheit, welche ihr ihre Frische raubt, welche ihre Reize, das einzige, worauf die Wirthin speculirte, zerstört: augenblicklich wird das arme Schlachtopfer mit Schimpf und Schande weggejagt, ohne Kleidung, ohne einen Pfennig Geld allen Schrecken des Elends preisgegeben, unwerth des Mitleids, auf das sie Anspruch hatte, so lange ihr Elend noch unbefleckt war.“
§23
Die dritte Klasse sind die Karten-Mädchen. Sie sind frei, erhalten polizeilich eine Karte, damit man sie controlliren und wissen könne, ob sie sich regelmäßig zur ärztlichen Untersuchung stellen. Einige derselben wohnen für sich, andere, meist Arbeiterinnen und Töchter von Arbeitern, wohnen bei ihren Aeltern, noch andere wohnen in Hotels garnis. „Und in dieser Claffe finden sich jene Elenden, welche von einem menschlichen Geschöpf nur noch die abgenutzte und ekelhafte Hülle haben und das scheußlichste Bild darstellen, welches nur die Natur in ihrer frühzeitigen Entwürdigung und frühreifen Gesunkenheit bieten kann.“
§24
Eine anständigere Sorte der Karten-Mädchen sind die Parthieen-Mädchen. Auch ihr Leben besteht aus einer ununterbrochenen Reihe von Unordnungen; von ihren Herrinnen werden sie gequält, von vielen Männern schlecht behandelt. Entehrende Krankheiten treffen sie; ihre Reize verschwinden in kurzer Zeit; sie sind den „empörendsten Demüthigungen ausgesetzt und sie stürzen unaufhaltsam in den Abgrund der Prostitution, so daß ihre Jugend sie meistentheils noch auf öffentlicher Straße, auf der letzten Stufe der Entehrung überrascht.“ --
§25
„Die Zwischenträgerin ist die Unterhändlerin der Prostitution. Die, welche diese ehrlose Rolle spielt, ist tausendmal schuldiger, als das Freudenmädchen. Ohne ihre Versprechungen, ihre mit tausend Lügen gezierten Süßigkeiten wie viele jener Unglücklichen würden eine anständige Stellung in der Gesellschaft einnehmen und in der Liebe ihrer Angehörigen, in der allgemeinen Achtung glücklich sein.
§26
„Aber wie sich der ausgefeimten Schulkniffe einer Kupplerin erwehren? Ihre Listen wiederholen sich unter so verschiedenen Gestalten, daß es einer felsenfesten Tugend bedürfte, um ihren unermüdlichen Angriffen Widerstand leisten zu können.“
§27
„Doch wohlan! höret noch von einer andern Hure, welche, selbst in ihrer Sphäre der Schamlosigkeit in den niedrigsten Grad der Verworfenheit verfallen ist. Elendig, schmuzig, würde sie einen Ekel zum Erbrechen erregen, wenn man sie beim fahlsten Lampenschein sähe; daher sucht sie immer die Finsterniß, und wie die Vögel der Nacht hält sie sich nur an den dunkelsten, einsamsten Orten auf. Hinter Schutt- und Steinhaufen, hinter verfallenen Häusern paßt sie auf den Mann, den der Zufall ihr in den Weg führt. Einige von diesen Geschöpfen sind über sechzig Jahre. Griff ich bei meinen nächtlichen Wanderungen solche Weiber auf, so kam mir oft genug der Zweifel, ob diese Wesen dem Menschengeschlechte angehörten, so sehr hatte die Sittenlosigkeit ihre Organisation außer Rand und Band gebracht. Ich kann nicht begreifen, wie Männer, junge Leute, schön und von Gesundheit strotzend, so häßliche, fahle, stinkende Geschöpfe in ihren Arm drücken können.“
§28
Eine andere Classe der Freudenmädchen auf niedrigster Stufe sind die Soldatenmädchen. „Das sind gewöhnlich mehrmals weggejagte Domestiken, welche ihrer Verrufenheit wegen keine Stelle mehr finden. Oder es sind Dirnen, die in den Garnisonen von Soldaten verführt, ihrem Geliebten nach Paris folgten, hier verlassen wurden und nichts weiter anzufangen wissen, als sich preiszugeben.“
§29
„Die Barrierenmädchen, welche man nur selten im Innern von Paris trifft, weil sie sich nur in den Vorstädten herumtreiben, befassen sich mit der unnobelsten Menschenklasse und befinden sich stets in einem Zustande viehischer Betrunkenheit. Sie haben nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollen, im Sommer schlafen sie auf den Feldern, im Winter in den Steinbrüchen in der Nähe von Paris.“
§30
Es giebt aber noch andere Barrierenmädchen, gewöhnlich fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, welche, anständig gekleidet, bescheidener Haltung, oft ein Buch in der Hand vor den Thoren der Stadt auf und nieder wandeln. Bei ihnen findet man keine unanständige Gebärde, keine Lockung, manchmal sogar geistreiche Unterhaltung. „Ich bin der Ansicht, daß die Polizei diese im Vergleich zu den anderen Freudenmädchen so seltenen Frauen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit mehr, als sie es thut, gegen die Rohheit betrunkener Wüftlinge schüßen sollte. Diese Frauen leben gewöhnlich im Schooße ihrer Familie, welche Nichts davon ahnt, daß sie auf der Polizei eingeschrieben sind. Mangel an Arbeit, Faulheit oder Vernachlässigung von Seiten ihres ersten Geliebten, das sind die gewöhnlichen Gründe für die Art der Preisgebung, in der sie leben: aus Furcht, von ihren Bekannten oder Verwandten beobachtet zu werden, üben sie ihr Geschäft vor dem Thore.“
§31
„Viele Freudenmädchen verbinden mit ihrem Geschäfte noch das des Diebstahls, worin sie von ihren Liebhabern, die man mit dem Namen „Marlou“ gebrandmarkt hat, unterstüßt werden. Der Marlou hat gewöhnlich angenehme Manieren; er ist bei seinen blutigen Unternehmungen von kalter Wildheit. Seine Seele ist feig, verweichlicht, sein Wille aber ist eisern bei Ausübung eines Verbrechens. Warum ist ein Mensch von einem solchen Aeußern, dessen Anlagen, von Kindheit an wohl gezogen, vielleicht den Stolz seiner Familie gemacht hätten, zum verdorbensten Subject, zum gefährlichsten Verbrecher herabgefunken? Weil seine Jugend von bösen Rathschlägen, von bösen Beispielen umgeben war: dann von der Zeit an, wo die Leidenschaften zu keimen beginnen, sich selbst überlassen, hat er sich einer unsittlichen Lebensart, lasterhaften Verbindungen ergeben und ist endlich der Verblendung des Spieles, der Lockung der Ausschweifung erlegen.“
§32
Wir haben jeßt die verschiedenen moralisirenden und charakterisirenden Betrachtungen Berauds angehört: seine Moral hat in superlativen und ercentrischen Worten, Redensarten, Beschreibungen sich stark gefühlt; mit einem Male wird sie wieder so schwach, daß sie von der Nothwendigkeit der Freudenhäuser spricht. „Die Freudenhäuser,“ sagt Beraud, „werden von Damen, die freilich wenig achtbar sind, geleitet; aber da die Hurerei ein unheilbares Uebel ist, der menschlichen Natur innewohnend; da dies Uebel sogar nach dem Geständniß der unnachgiebigsten Casuisten ein nothwendiges ist, so muß, wie mir scheint, die Regierung jene Damen gegen den Unfug einer verdorbenen und brutalen Jugend schüßen.“
§33
Und wie sehen diese Wirthschaftshalterinnen, „welche die Polizei schüßen muß,“ nach Berauds eigener Beschreibung aus? „Um die Zahl der Freudenmädchen voll zu erhalten und diese so frisch wie möglich zu haben, sehen sich die Wirthschaftshalterinnen gezwungen, oft mit ach! nur zu viel Erfolg unter jungen Töchtern zu recrutiren, welche sie durch die schönsten Versprechen täuschen und welche sie mit Hilfe ihrer abscheulichen Kupplerinnen zur Ausschweifung verleiten. Unglücklich ist das junge unerfahrene Mädchen, welche sich durch den Köder der Coquetterie und Leckerhaftigkeit fangen, unglücklich vor allem, welche sich durch den Traum der Freude und der Vergnügungen verführen läßt! Im Schooße der Ausschweifung ist alle Freude Lüge, aller Genuß Schmerz. Das Uebermaaß verekelt Alles. Und damit ein junges Mädchen, in den Schlingen der Preisgebung gefangen, nicht bald das unglücklichste aller Geschöpfe sei, muß sie den Verstand verlieren, und dann fühlt sie ihr Unglück nicht mehr; oder sie erliegt dem Kummer, den Rohheiten, den Qualen, vor denen sie durch Nichts geschützt ist und ein früher Tod rettet sie aus einem abscheulichen Dasein.“
§34
„Meine Erfahrung hat mich, indem sie mir das Uebel enthüllte, vermocht, das Heilmittel zu suchen. Ich glaube es gefunden zu haben, und ich will es heut als Mann, der seinen Nächsten liebt und seinem Vaterlande ergeben ist, veröffentlichen.“
§35
Dieses Mittel besteht darin, daß man die geheime Hurerei unterdrückt, sie zu einer öffentlichen, d. h. der polizeilichen Beaufsichtigung unterworfenen macht, die Freudenmädchen selber aber, nebst ihrem Gewerbe, von der Straße verbannt. Hiermit glaubt Beraud ohne Zweifel die Bedingungen erfüllt zu haben, welche er selbst auf folgende Weise stellt: „man muß den Finger in die Wunde legen, muß sie bitterliche in ihren Resultaten zu zeigen.“
§36
Hier noch einige von Berauds Reformvorschlägen: man darf mit Conceffionen zu Freudenhäusern nicht zu ängstlich zurückhalten, dadurch wird nämlich die polizeiliche Beaufsichtigung bequemer: man darf Niemandem gestatten, die Polizeiacten einzusehen, so werden sogenannte anständige Mädchen weniger durch Scham zurückgehalten, sich einschreiben zu lassen. Auch darf man die Freudenmädchen nicht zwingen, sich an hellem lichtem Tage zu gewissen Stunden auf der Polizei wegen ihrer ärztlichen Untersuchung zu stellen, man muß sie in ihrer Behausung inspiciren. „Die tägliche Erfahrung lehrt uns, daß selbst das im Dienst ergraute Freudenmädchen, das alle Scham verloren hat, immer noch eine fühlende reizbare Faser behält, welche sie gegen jenen Muß-Besuch rebellisch macht, so daß sie ihm unter jedem Vorwande zu entgehen trachtet.“ „Der gegenwärtige Zustand der Dinge ist eine Abirrung, eine Monstruosität, welche eine Verwaltung, die die Moral schützen will, abschaffen muß.“ Und wie? Indem sie die Mediciner in die Freudenhäuser schickt.
§37
Beraud berechnet, daß die Zahl der nicht eingeschriebenen Freudenmädchen von Paris die der eingeschriebenen um das Doppelte übersteigt: man könnte also ungefähr achttausend heimliche Huren in der Hauptstadt Frankreichs rechnen. Eines dieser Mädchen, die durch Berauds Agenten arretirt waren, zählte kaum zehn Sommer; mehrere waren dreizehn bis vierzehn Jahre alt; viele funfzehn bis siebzehn Jahre, von zwei Schwestern war die eine sechzehn, die andere neunzehn Jahre alt: eine Stumme stand in ihrem funfzehnten Jahre; ein Mädchen von dreizehn und eins von vierzehn Jahren wurden zum dritten Male arretirt; drei waren fünfundfunfzig, vier achtundfunfzig, zwei neunundfunfzig, zwei zweiundsechzig, ein Mädchen endlich war dreiundsechzig und eins fünfundsechzig Jahre alt.
§38
Die Zahl der heimlichen Freudenmädchen wächst oder vermindert sich mit den Jahreszeiten. „Zu Neujahr, an gewissen Festen, an Namenstagen wollen die jungen Mädchen Geschenke machen, schöne Blumensträuße darreichen; sie wollen selber ein neues Kleid, einen Modehut, und da sie kein Geld haben, geben sie sich auf einige Tage Preis. Man ladet ein Fräulein zu Gevatter, da sind Ausgaben nöthig, die Börse ist leer und man giebt sich Preis, blos um neben dem Herrn Gevatter anständig einhergehen und bei der religiösen Ceremonie eine „achtbare“ Figur spielen zu können. Eine andere ist zur Hochzeit eingeladen, sie will auf dem Ball elegant erscheinen, die Prostitution deckt die Kosten ihrer Toilette.“
§39
„Das Strafsystem in Bezug auf die Freudenmädchen hat seit ungefähr zehn Jahren bedeutende Verbesserungen erfahren. Diese Verbesserungen waren um so dringender, als die Menschlichkeit oder besser gesagt, die Gerechtigkeit sie zu Gunsten der unglücklichen Mädchen forderte, die, wenn sie gestraft wurden, außerhalb des gemeinen Gesezes standen. Wenn, wie ich nachher beweisen werde, die Willkür bei Behandlung der Freudenmädchen unvermeidlich ist, wenn sie sogar gegen Wesen, die sich, so zu sagen, in einem Zustande unheilbarer Verworfenheit befinden, nothwendig ist, so ist es auch gerecht, daß die Obrigkeiten, beauftragt, die Achtung für die öffentliche Sittlichkeit und Sicherheit aufrecht zu erhalten, alle möglichen Maßregeln ergreifen, damit die willkürlich auferlegten Strafen, indem sie die im allgemeinen Interesse erzielten Resultate haben, zugleich der Zukunft derjenigen nußen, die durch sie getroffen werden.“
§40
Früher erhielten „jene Unglücklichen“ den Staupbesen, wurden geschlagen, geschoren, gezeichnet und in verpestete Löcher gesteckt, welche man mit dem Namen Besserungsanstalten beehrte. Die Sittlichkeit der damaligen Zeiten war grausam, intolerant, consequent: jeder Mensch, der nicht für sie war, war wider sie und verdiente nicht mehr als Mensch geachtet, behandelt, bemitleidet zu werden. Diese Sittlichkeit hatte ihre lettres de cachet, wie der souveräne Fürst, sie war aristokratischer, als irgend ein Marquis, war religiöser als der Papst. Heut sind die Freudenmädchen in den Gefängnissen gesund einquartirt, haben jede ein Bett und gute Kost.
§41
„So viel bleibt gewiß, daß die Freudenmädchen einem exceptionellen, willkürlichen Strafsystem unterworfen bleiben müssen. Ist doch das Freudenmädchen ein apartes Wesen in der Gesellschaft, sie hat mit Willen das Band mit ihr zerrissen, indem sie alle gediegenen Principien, alle Formen „der Ehre mit Füßen trat, um in einer verderbten Atmosphäre zu leben, von der aus sich verpestende, tödtliche Dünste über die ganze Bevölkerung verbreiten. Ihre Sitten sind nicht unsere Sitten, es wäre ein öffentliches Aergerniß, wenn das Freudenmädchen in Mitten ehrbarer Frauen Plaz nehmen wollte, die Freudenmädchen müssen daher, um nicht zu sagen als weibliche Heloten, doch als Wesen außerhalb der Gesellschaft behandelt werden.“
§42
„Man nehme einmal an, ein Freudenmädchen wäre bei der Aufforderung zur Ausschweifung auf offener Straße ertappt, arretirt worden, und sie würde vor einen öffentlichen, ordentlichen Gerichtshof geführt. Advocaten würden sich nicht scheuen, solchen Clientinnen ihr Wort zu leihen; Entlastungszeugen würden gehört werden, und was für welche! Unterhalter, Marquis; ein verderblicher Conflict würde zwischen den Berichten der Polizei und den Aussagen der Zeugen entstehen; die Verläumdung würde sich gegen die Agenten der Polizei richten u. s. w. Die Angeklagte würde freigesprochen werden.“
§43
Beraud gesteht also ein, daß es in der sittlichen Gesellschaft eine ganze Klasse von Wesen giebt, welche die Gesellschaft mit ihrer Sittlichkeit, mit ihren Gesezen, mit ihren Einrichtungen nicht zu umfassen vermag. Was folgert er daraus? Nichts gegen diese Gesellschaft, denn sie ist absolut, sondern: nun, man soll eben diese Wesen lassen, wo sie und was sie sind; „haben sie sich doch selber außerhalb der Gesellschaft gestellt.“
§44
Beraud kommt im dritten Capitel des zweiten Theils auf die Syphilis zu sprechen. Beschränkte sich, meint er, diese Krankheit nur auf jene verworfenen Wesen, in denen sie ihren Ursprung und ihre Fortpflanzung findet, dann würde ich vielleicht nicht so sehr darauf dringen, für sie ein Radicalmittel zu suchen, aber man bedenke doch auch, daß sich ihre verderblichen Folgen auf unschuldige Ehefrauen, auf Kinder, auf ganze Generationen erstrecken.
§45
Beraud beschränkt sich bei seinen menschenfreundlichen Reformabsichten nicht auf Vorschläge im Einzelnen, er hat auch ein General-Reglement für die Freudenmädchen entworfen; die hauptsächlichsten Punkte darin sind folgende: Es ist den Freudenmädchen ausdrücklich verboten, sich in den Straßen und an öffentlichen Orten zu zeigen, um hier direct oder indirect zur Ausschweifung anzuregen. Sie können sich nur in den polizeilich geduldeten Freudenhäusern oder in ihrer eigenen Wohnung preisgeben. Die Freudenmädchen, welche nicht in jenen Häusern wohnen, müssen sich einfach gekleidet dorthin begeben, indem sie sich auf dem Wege jeder Unanständigkeit, jedes Aufenthalts, jeder Promenade, jeder Aufforderung enthalten. Sie dürfen an ein und demselben Abende sich nicht von einem Freudenhaus in das andere begeben. Die Zahl der Freudenhäuser in Paris erleidet keine Beschränkung. Jedes Mädchen, welches sich freiwillig stellt, oder sich von einer Wirthschaftshalterin stellen läßt, um in den Registern der Polizei eingetragen zu werden, wird angenommen, sein Alter und seine sonstigen Umstände mögen sein, wie sie wollen u. f. w.
§46
So weit Beraud: er hat der polizeilichen Moral einen Ausdruck gegeben, die sich nicht berufen fühlt, ein Uebel in der Gliederung des Ganzen zu entdecken, sondern sich damit begnügt, dasselbe zurückzudrängen und so viel wie möglich den Blicken anständiger Personen zu verhüllen.
§47
Ich schließe mit der Uebersetzung eines historisch merkwürdigen Actenstückes, das sowohl an sich für den Historiker und für den, der die Gesellschaft aus dem Grunde kennen lernen will, wichtig ist, als auch, als Gegensatz, eine Ergänzung zu Berauds Werke ist. Im Jahre 1830 nämlich, als der Polizeipräfect von Paris, Mangin, eine Ordonnanz erlassen hatte, durch welche die Freudenmädchen von der öffentlichen Straße verbannt wurden, gaben die Marlous eine Broschüre heraus, in welcher sie gegen diese Ordonnanz „im Interesse des gemeinen Wohles und der gemeinen Sicherheit“ protestirten.
§48
Diese Broschüre führt folgenden Titel: „Funfzigtausend Diebe mehr in Paris, oder Einspruch der alten Marlous der Hauptstadt gegen die Ordonnanz des Herrn Polizeipräfecten, die Freudenmädchen betreffend: vom schönen Theodor Cancan. Motto: habt mit uns Erbarmen, ich fasse Eure Knie, o hört das Flehn der Armen (Hernani, Act 5, Scene 4) Druck von David, Boulevard Poissonniere, Nro. 4.“
§49
„Funfzigtausend Diebe mehr in Paris! Auf Unehrenwort, Herr Präfect, Sie haben da ein schön Stück Arbeit gemacht, und ich fürchte, Sie werden sie bald zu bereuen haben; denn Sie haben den Dieben, den Gaunern, den Gaudieben, den Vagabonden u. f. w., welche die schönste Hauptstadt der Welt verpesten, eine brave Verstärkung zugeführt; und wenn ich sage, funfzigtausend Diebe mehr, so bin ich gewaltig überzeugt, daß ich noch sehr mäßig bin.
§50
„Ich hätte eigentlich mit der Auseinandersetzung anfangen sollen, was denn ein Marlou sei; denn Sie wissen's vielleicht nicht; aber falls man es Ihnen schon auseinandergesetzt haben sollte, wird es hier nicht unnüß sein, es noch einmal aus Rücksicht auf die gute Sitte zu sagen; denn ich hoffe, daß noch Andere als Sie diesen Einspruch lesen werden, und wenn Herr von Jouy davon unterrichtet gewesen wäre, so hätte er in seinem „Eremiten der Chaussee d'Antin“ gewiß davon gesprochen.
§51
„Ein Marlou, Herr Präfect, ist ein schöner, junger Mann, kräftig, solide, der sich gut trägt und benimmt, tanzt die Cachucha und den Cancan mit Eleganz, ist liebenswürdig bei den Mädchen, welche sich dem Dienst der Venus geweiht haben, schützt sie bei drohender Gefahr, behandelt sie mit Achtung und weiß sie zu zwingen, sich anständig zu benehmen, ja anständig, das werd' ich beweisen. Sie sehen also, daß ein Marlou ein moralisches, der Gesellschaft nützliches Wesen ist, und Sie wollen uns dahin bringen, eine Pest derselben zu werden, indem sie unsere Freundinnen zwingen, ihr Gewerbe auf das Innere ihrer Häuser zu beschränken?
§52
„Wie diese Damen noch frei ausgehen, dem dummen Engländer zulächeln, den robusten Deutschen anreizen, den schwarzbraunen Portugiesen verführen, endlich den Spanier, den Amerikaner anlocken durften, da war Geld vollauf in der Wirthschaft, uns Mar-lous fehlte es an Nichts und Ihre Agenten haben mich ohne Zweifel diesen Winter in meinem Mantel à la Quiroga und in meinem grauen Hute gesehen. Aber was soll mit Ihrer Ordonanz aus uns werden? Ich weiß es nicht, denn wir hatten unsere Beschäftigungen. Das Geld, das uns unsere Damen gaben, um uns von sich fern zu halten, damit wir sie nicht in ihren Abentheuerchen störten, wir brachten es jeden Abend nach unserem Gelüst, nach unseren Gewohnheiten durch. Carl ging zu Constant, in die Tabagie in der Straße Favart und las seine Zeitung, denn man kann Marlou sein und doch die Neuigkeiten lieben; August ging um Karte zu spielen und seine Cigarre zu rauchen; Ernst machte sein Piket beim Weinhändler an der Ecke; Adolph ging umsonst ins Theater, Gustav kaufte einen „Lavabe“ für die Varietes.
§53
„Sie wissen vielleicht nicht, was das heißt. Wohlan denn, ich, so sehr ich Marlou bin, will es Ihnen erklären; denn ein Präfect muß Alles wissen.
§54
„Ich muß Ihnen sagen, daß, wenn die Herren Autoren ein Stück aufführen lassen, sie nicht das Urtheil des zahlenden Publicums abwarten, sondern das Parterre auf folgende Weise anfüllen: sie geben Herrn Sauton – da stelle ich Ihnen gleich einen alten Marlou vor, einen Schuft von der Tanzgesellschaft der Straße des Marais und des Sommer-Vaurhalls – Sie geben also dem Herrn Sauton hundert oder zweihundert Billets. Er, der ein schlauer Fuchs ist, vertheilt ein Schock davon umsonst: dafür muß man klatschen, weinen, stampfen: und so ein Hundert Lavaben, das heißt, man giebt dafür ein Paar Groschen........
§55
„Alexander, welcher leidenschaftlich tanzt, ging regelmäßig alle Sonntage, Montage und Donnerstage auf die Bälle in Paris und die andern Tage auf die Bälle extra muros. „Glauben Sie nicht etwa, daß ich Latein verstehe; nein wahrhaftig, ich habe nichts gelernt und das kann man an meinem Stil sehen, aber wir haben unter uns Brüdern einen jungen Menschen, der den Rechtscursus gemacht hat, und der hat mir gesagt, was das heißen soll.........
§56
„Paul, Supernumerarius bei dem Verwaltungsfache, könnte der eristiren und sich anständig kleiden, wenn Sie derjenigen, die ihn unterhält, die Erwerbsquelle abschneiden?
§57
„Hippolyt, Ex-Sapeur-Pompier, der Nichts weiter gelernt und den die Nothwendigkeit zum Marlou gemacht hat, soll der noch mit dreißig Jahren in die Lehre gehen?
§58
„Achilles, Alcide, Alphons, Camill, Emil, Eugen, Lucian, Philipp, Rudolph, Theodor und tausend Andere, deren Namen ich Ihnen nennen könnte, werden sie, nachdem sie in einer Art Luxus gelebt, im Elende leben können? Nein, gewiß nicht. Der Hilfe jener Damen beraubt, werden sie den Speisewirth, den Schneider, den Schuster, den Hutmacher bezahlen können? Wie vielen Handwerkern bereiten sie einen beträchtlichen Verlust!
§59
„Sie sehen also wohl, Herr Präfect, daß ich und alle meine Mitbrüder durch Ihre Ordonnanz in Bedrängniß und Kümmerniß gerathen sind und daß ich nicht übertreibe, wenn ich sage, daß Sie funfzigtausend Diebe mehr machen werden. Was sollen wir anfangen, um zu leben? Stehlen! ... um uns Kleider zu verschaffen? Stehlen! ... um selbst einem natürlichen Bedürfniß zu genügen? Stehlen! ... da haben Sie also eine Classe von Menschen, welche seit undenklicher Zeit sich durch gute Haltung, musterhaftes Benehmen, durch die Dienste, welche sie der Gesellschaft leistete, auszeichnete, und welche jest in die peinliche Nothwendigkeit versezt ist, zu stehlen, zu gaunern, zu Taschendieben, ja zu morden, wenn Noth am Mann ist. O großer Gott!
§60
„Wir sind nicht ehrgeizig, auf Ehre! Wir wollen keine Häuser kaufen, wir wollen nicht, wie Herr Jules Vidocq, ein prächtiges Landhaus erwerben, ein Cabriolet haben und von uns sprechen machen, indem wir unsere Memoiren veröffentlichen. Wir wollen nur trinken, spielen, rauchen, lesen, in's Theater, auf Bälle und spazieren gehen, kurz von einem Tag in den andern leben und diejenigen glücklich machen, die ein unglückliches Geschick der Prostitution preisgegeben. Und da wir endlich nicht die Zahl derjenigen vermehren wollen, welche die Gefängnisse und Galeeren überschütten, Gnade! Herr Präfect! vernichten Sie durch eine neue Ordonnanz die Wirkung der ersten und Sie werden den ehrenwerthen Bürgern von Paris die Sicherheit wiedergeben, welche Sie Ihnen geraubt, indem Sie uns zwangen, wo anders und auf andere Weise Existenzmittel zu suchen.“ ......
§61
Beraud macht hierbei nur folgende Bemerkung: „Welcher ehrenwerthe Mann sollte nicht nach Lesung dieser Zeilen über die Frechheit und Schamlosigkeit dieser Schändlichen, der Schmach und des Schreckens der Gesellschaft, empört sein.“
§62
Wir fügen hinzu, daß die Empörung nicht derjenige Zustand ist, in welchem eine gesellschaftliche Frage gelöst werden kann.