§112
Wenn die Prude mit der größesten Peinlichkeit auf ihren guten Ruf bedacht ist, sich nicht anders als mit Mutter oder Tante öffentlich sehen läßt, so lebt dieses Mädchen mit der heitern, lebendigen, glücklichen, beweglichen, prosaischen, sorglosen, obgleich gutmüthigen und mitleidigen Natur im ungenirtesten Umgange mit demjenigen, der grade ihr Nachbar ist. Sie weckt ihn des Morgens, macht ihm die Stube sauber und ordentlich, sorgt für seine Wäsche, läßt sich dafür ihr Zimmer bohnen, hängt sich Sonntags an seinen Arm und läßt sich zum Diner bei einem Restaurateur oder in's Theater führen oder besteht mit ihm, wenn sie beide kein Geld haben, die Kaufmannsläden. Dabei freut sie sich, daß sie ihrem Freunde in dem dunkelblauen Levantinckleid, im niedlichen Häubchen mit Spitzengarnirung und Orangeschleifen, in dem Stiefelchen von Satin turc und dem prächtigen Shawl von Bourre de Soie, der ganz wie Caschemir aussieht, Ehre macht. Sie läßt sich von ihrem Nachbar den Shawl von ihrem Bette holen, von ihm unter dem Chemiset feststecken, fordert ihn auf, ihr des Abends, wenn er grade nichts Anders vorhat, in ihrem Zimmerchen vorzulesen, sagt zu ihm „Männchen“ und läßt sich von ihm „Frauchen“ nennen, kurz verkehrt mit ihm ohne Zurückhaltung und auf vertrauteste Weise. So hat sie's mit Gireaudeau, Cabrion, Germain getrieben, mit Rudolf beginnt sie von neuem, und troßdem hat sie stets ihre Unschuld bewahrt. Sie hat ihre Unschuld bewahrt, nicht weil die geheimnißvolle Flamme der Tugend in ihrem Busen brennt, nein, sie macht gar kein Geheimniß daraus: weil sie keine Zeit hat, um eine Liebschaft einzugehn. Rudolf fragt: „was hindert die Zeit, um einen Liebhaber zu haben?“ — „Was die Zeit hindert? Alles,“ antwortet sie. Erstlich würde ich eifersüchtig sein, wie eine Tigerin, und mich mit den schrecklichsten Gedanken quälen. Verdiene ich so viel Geld, daß ich des Tags ein Paar Stunden durch Jammern und Weinen verlieren kann? Und wenn man mich hinterginge, welche Thränen! welcher Gram! Das würde mich unendlich zurückbringen! Noch schlimmer wär's, wenn er zu artig wäre. Könnte ich dann einen Augenblick ohne ihn leben? Und wenn er mich verließe? Bedenken Sie! Ach, ich weiß gar nicht, was alles mir widerfahren könnte. So viel ist gewiß, daß meine Arbeit darunter leiden würde, und was sollte dann aus mir werden? Ich kann kaum jeßt, da ich ganz ruhig bin, Alles verdienen, was ich brauche, wenn ich zwölf bis funfzehn Stunden täglich arbeite. Wie könnte ich die Zeit wieder einbringen, wenn ich durch Jammern und Klagen wöchentlich ein Paar Tage einbüßte? Sie sehen selbst, es geht nicht,“ schließt sie dann. Sie macht sich gar kein Verdienst daraus. Sie beruft sich nicht auf das Geheimniß der Tugend in ihrem Busen. Ganz einfach erklärt sie: „ich habe nicht Muße gehabt, um verliebt zu sein.“ Und als sie nun später für den unglücklichen Germain, der des Diebstahls angeklagt, im Gefängnisse sich nur mit seiner früheren Nachbarin beschäftigt, wirklich nicht mehr bloß Freundschaft, sondern die wahrhafte und innigste Liebe empfindet, da verbirgt sich hinter ihrer Liebe nicht jenes Geheimniß, welches die Liebenden in ihrer Liebe nicht eher befriedigt sein läßt, als bis sie einander besigen, bis sie sich einander Arm in Arm liegen. „Ich will nicht daran denken, sagt sie zu Rudolf. „gewiß ist, ich werde für Germain alles thun, was ich vermag, so lange er im Gefängnisse ist. Ist er frei, dann wird es immer Zeit sein zu überlegen, ob ich Liebe oder Freundschaft für ihn empfinde. Ist es Liebe, nun so mag es Liebe sein. Bis dahin werde ich mich nicht darum kümmern.“ Ihre Liebe ist reine Liebe, Liebe ohne Schaam, denn ungetrübt ist sie von romantischen Träumen, die das Blut aufregen. Denen, welchen die Gluth im Busen, das Feuer in den Adern das Geheimniß der Liebe ist.
[Notes for §112 here]